Große Träume wiegen schwer

„Wege durch das Land“ verbindet Musik, Literatur und Land in 23 Veranstaltungen miteinander. Findet Gemeinsamkeiten, Kraft in Unterschieden und will vor allem eins: Mut schenken. Dieses Jahr widmet sich das Festival in Ostwestfalen-Lippe den Themen Entwurzelung und Verlust von Heimat. Die Veranstaltung unter dem Namen „Dein Herz lodert, aber hat es je gebrannt?“ lädt nach Detmold in das Gymnasium Leopoldinum ein. „Coming-Of-Age“ ist der Rahmen – ihn füllen musikalisch das Indie-Pop-Duo Lena&Linus, die dazu einladen, in Songs aus dem Album „Sekundenschlaf“ einzutauchen. Schauspieler Noah Saavedra liest aus J. D. Salingers „Der Fänger im Roggen“, dessen junger Erzähler drei Tage durch Manhattan irrt. Mit der Lesung aus ihrem Roman „Gittersee“ vervollständigt Schriftstellerin Charlotte Gneuß das Programm und gibt Einblick in das Leben der 16-jährigen Karin inmitten der DDR.

Charlotte Gneuß eröffnet den Abend. Steigt auf die Bühne, nimmt am Tisch Platz, lässt ihren Blick durch den Saal schweifen. „Ich mag die Vorhänge“. Schlägt ihr rot gebundenes Buch auf, aus denen bunte Lesezeichen ragen. Sie malt uns ein Dresden der 1970er Jahre aus, durch die bunt verglasten Fenster fällt helles Sonnenlicht. Ihre sanfte Stimme hallt durch die große Aula mit den hohen Decken und schönen Vorhängen, erzählt davon, wie Karin sich von ihrem Freund verabschiedet. Charlotte springt durch das Buch, ohne uns herauszureißen aus dem Hineinversetzen. Immer wieder bringt die Liebe zum Detail zum Lächeln. Die Brotkrumen auf dem Tisch, die vielen Beobachtungen um Karin herum. Sie erzählt von der Naivität eines Kindes und liest auch genauso. Sie liest so gut vor, dass wir auch kurz davor sind, zu verstehen und den Autoritäten der DDR um Karin herum Glauben zu schenken. Und lässt sich dankenswerterweise nicht unterkriegen von der Stimme aus dem Publikum, die sie auffordert, langsamer und akzentuierter zu lesen.

Mit viel Applaus wird Charlotte von der Bühne verabschiedet und Lena&Linus werden willkommen geheißen. Die beiden schreiben Geschichten über ihr Leben und packen diese in Melodien. Vor allem aber auch in tonnenschwere Gefühle. Mit dem ersten Ton wandelt sich die Stimmung, packt das Publikum in eine warme Decke und webt die Stimmen von der Bühne mit bunten Farben in diese ein. „Große Träume wiegen schwer“. Die Texte schenken der Melodie ihren Platz, brauchen Zeit zum Ziehen und lassen sich dafür umso wärmer genießen, wenn sich die Stimmen von Lena und Linus begegnen. Sich übereinanderlegen, sich ineinander verlieren, miteinander tanzen. Linus, kariertes Hemd, Gitarre auf dem Schoß, Lena, gemustertes Hemd, Hände bewegen sich im Takt der Musik. Beide lächeln verträumt während den Songs und beenden sie stolz grinsend. In der ersten Reihe sitzen zwei Menschen mit einem weißen Lena&Linus Print auf schwarzem Shirt, die jeden Song mitsingen können – sogar den unveröffentlichten – und ihre Hände zum Tränen fortwischen brauchen, während die anderen um sie herum in lauten Applaus ausbrechen. Der unveröffentlichte Song ist aber auch besonders schön und schenkt Vorfreude auf die nächsten Releases nach den zwei bisher erschienenen EPs.

In der kurzen Pause zwischendrin fragt der nächste Gast, Noah Saveedra, verstohlen, ob er die Lesung einfach mit einem hallo beginnen soll – umso sympathischer, dass er es dann auch durchzieht. Das Publikum grinst jetzt schon mit ihm. Er vermag es, das ausdrucksstarke und sehr bildhafte Buch sehr ausdrucksstark und sehr bildhaft rüberzubringen. Hat den Text auf mehrere Blätter verteilt ausgedruckt und die Worte von J. D. Salinger in kleine Zeilen gequetscht. Er nimmt mit in die Gedankengänge Holdens, hat sich für jede Person eine andere Stimmfarbe ausgedacht – wobei ich mir aber gewünscht hätte, dass er den weiblichen Stimmen einen angenehmeren Klang verleiht. Trotzdem regt der Roman zum Nachdenken an in einer sehr unbedarften und jungen Weltsicht, in die sich das überwiegend ältere Publikum noch einmal zurückversetzen darf. „Woher wüsste man denn, dass man nicht verlogen ist?“.

Noch neun Veranstaltungen können in der Reihe „Wege durch das Land“ besucht werden – alle Informationen dazu finden sich unter https://www.wege-durch-das-land.de/programm/.