Langsam klopft der Herbst an der Tür, aber trotzdem findet das Baller-Ina Festival am 28. August in Blersum unter freiem Himmel statt. Die Bierbänke sind ordentlich aufgereiht und von der Bühne schallen die ersten Lieder der Opener „Von Grambusch“, als wir das überschaubare Festivalgelände betreten. Durch eine kleine Siedlung, vorbei an einer lauten Landstraße und bis nach ganz hinten durch, wo die Kühe die Sonne wach küssen und Wolken sich in den gen Himmel ragenden Bäumen verfangen. Oder auch ein Dorffestival, wie es im Buche steht – die familiäre Atmosphäre gibt es gratis dazu, weil jeder jeden zu kennen scheint und neben den Bands auf der Bühne der Alkohol der wichtigste Bestandteil des Abends sein wird.
Von Grambusch besingen Weltschmerz, Sehnsucht und Aufbruch, geschmückt mit einer mitreißenden Portion Euphorie, die stets beide Mundwinkel nach oben ziehen lässt und das Gelände in strahlendes Licht taucht. Mit Freude, Hüftschwung und Glück im Gepäck hat sich die Bremer Band ein kleines Wohnzimmer als Kulisse geschaffen, in dem es von blühenden Pflanzen und blinkenden Lichtern nur so wimmelt. Den hellen Klängen aus den Boxen wird durch eine große Wohnzimmerlampe ein warmes Leuchten verliehen, in deren Schatten Ängste und Sorgen miteinander tanzen. Düsterer Nostalgie wird jegliche Kraft genommen, während die Akustikgitarre fröhlich vor sich hin klimpert und dabei von kraftvollen Basslines und einlullenden Instrumenten begleitet wird.
Für den noch so eingängigen Reim ist man sich nicht zu schade, bunte Vergleiche prasseln auf das Publikum ein und mittendrin bahnt sich die ausbrechende Melodie in „Willkommen in Stockholm“ ihren Weg durch das Set. Öffnet Fenster sperrangelweit, lehnt sich über den Rahmen und blickt mit einem Hauch von Sehnsucht über die nebeldurchdrungene Zukunft. Während die vier Musiker ihre Herzen öffnen und die Hände animierend in der Mitte gegeneinander schlagen, wirbeln Ciricle-Pits um die Biertische das Publikum durcheinander. Selbstverständlich bleibt dabei die Einhaltung des Abstandes zu den anderen Tischen, der von der Crew wachsam überprüft wird.
Die vier Musiker auf der Bühne zaubern funkelndes Glitzern in die zufrieden geöffneten Augen, legen sanfte Worte in den erwartungsvoll lächelnden Mund und versetzen den Kopf in träumerische Erinnerungen. Wir haben alle noch so viel Zeit – und Von Grambusch helfen nicht nur dabei, diese zu überbrücken. Mit Leichtigkeit überspielen sie Albträume, bringen den Körper zum Tanzen und dazu, für eine halbe Stunde nicht älter werden zu wollen. Für immer in dem Mix aus Unterhaltung und leidenschaftlich gespielter Musik gefangen zu sein, während über der Himmelsdecke Sterne explodieren und ihre Funken im ganzen Weltall verteilen.
Es wirkt schon fast so, als hätten sie die Spezialrubrik „Dorffestival“ durchgespielt, mit den ganzen Ansagen, die sich auf biergeflutete Sinne legen und immer von befreienden Lachern begleitet werden. Egal ob der Sänger fragt, ob er den Text zum Mitsingen ausdrucken soll, oder darüber lacht, dass in der ersten Reihe Zuschauer synchron von ihrer Bank gefallen sind – es passt in das dynamische Bild des Dorffestivals. Die Band schafft es, dass die Zuschauer nach wenigen Songs an ihren Lippen und Instrumenten kleben, für eine kleine Ewigkeit vergessen, sich in die Sterne zu trinken und im Refrain euphorisch mit einsteigen. Auch der einsetzende Regen ist alles andere als ein Stimmungskiller – durchsichtige Regenponchos werden ausgepackt, die Jacke bis zum Hals zugezogen und danach direkt weiter getanzt.
Spätestens bei dem Jubel, den „Ich nehm‘ dich mit“ auslöst, wischen Von Grambusch meine Vorurteile gegenüber Dorffestivals mit einem vor Stimmungsausbrüchen triefenden Schwamm weg, packen sie in einen Karton und ersetzten sie stattdessen mit ganz neuen Ansprüchen. Mit Bildern von über beide Ohren grinsende Besucher, die von Kopf bis Fuß in kalten Regen gekleidet sind, mit Klängen von Sehnsucht und Sonnenschein im Rücken.
„Kommt später zum Merch – nicht unbedingt zum Kaufen, aber zum Saufen!“
Bevor Raum27 die Bühne betreten, füllen Simon und Steppo die Umbaupause mit erfrischendem Programm. Fahren mit einer Schubkarre voller Freibier durch die Menge, klopfen alltagsmüden Seelen ermutigend auf die Schulter und laden schließlich zu Bier-Aerobic ein. Ein paar Schritte, die man sich merken muss, in neonfarbene Anzüge gekleidete Animateurinnen und vor der Bühne ein kleines Duell um die besseren Tanzmoves – spätestens jetzt steht auch der letzte auf und schwingt die Beine von links nach rechts. Das Festivalfeeling, das sich bei Von Grambusch angebahnt hatte, entlädt sich hier vollständig und sorgt dafür, dass beschwingte Körper sich in den Armen liegen und Tränen von Schmerz und Enttäuschung über die ausgefallene Festivalsaison endgültig den Bach heruntergespült werden.
Auf der Toilette hängen sorgfältig einlaminiert Lyrics von „Cordula Grün“ und das Desinfektionsmittel riecht nach Korn, während sich der Himmel langsam zuzieht und Raum27 die Bühne erobern. Mit von der Partie die Live-Band und euphorisierende Songs, die immer wieder durchbrochen von kleinen Fan-Chören werden. Sänger Tristan erzählt unter Lachern die Geschichte einer hindernisreichen Anfahrt, hüpft quer über die Bühne und animiert das Publikum immer wieder dazu, sich von der inzwischen nassen Bank zu erheben und die Füße fest auf den Boden zu stellen. Auch der Tanzdrang kommt nicht zu kurz, als die Band nach dem Opener mit schwungvollen Songs loslegt, die noch eine ganze Spur kraftvoller und lauter sind als die mit einer Menge an Akustik verzierten Lieder von Von Grambusch.
Die verspielten Gitarrenakkorde schlagen ein neues Buch auf und blättern gedankenverloren erste Seiten um, als Tristans Stimme die Zeilen dazu malt. Erzählt von erschütternden Wahrheiten auf dem Mittelmeer, verfängt sich in fliegenden Melodien und träumt von einem Date mit der Liebe des Lebens. Raum27 greifen die alkoholisierte Luft und spinnen ihr eigenes Set darauf, schmücken sie mit Stärke und Selbstsicherheit. Heben vom Boden ab und sorgen bei „Traurig aber ist so“ für kleine Moshpits. Sprühen laue Zeilen in die laute Luft, legen Hoffnung auf der Fensterbank ab und reißen die durch Von Grambusch geöffneten Fenster für die Magie des Moments noch weiter auf.
Bei „Kalt Schwül Warm“ tanzt Tristans Stimme bedächtig auf dem fordernden Drumming, stolpert und richtet sich direkt danach wieder auf. Feuerzeuge erglühen und die Crew gibt sich alle Mühe, den Bestellungen über WhatsApp so schnell wie möglich nachzukommen. Balanciert randvolle Tablets durch die Reihen, während Raum27 wenig über sich und dafür aber viel mit dem Publikum reden. Zusammen lachen, genau hinhören und kleine Situationen weiterspinnen. Tristan bekommt ein Bier geschenkt, Oskar eine Sonnenbrille und die Band neugewonnene Herzen. Brennen, stehen lichterloh in Flammen und genießen die angenehme Wärme. Werden von den zahlreichen Lampen angestrahlt und in rotes Licht getaucht, mit Jubel und aufbrandendem Applaus belohnt.
Und schließlich werden auf dem ganzen Gelände Wunderkerzen verteilt, als „Hymnen vom Schlauchboot“ angestimmt wird. Ehrfurchtsvoll hält die Band für eine Millisekunde inne, um sich dann in der drückenden Aussage des Liedes zu verlieren. Die Sterne wurden vom Himmel geholt, in die Hände der Zuschauer gelegt und brennen langsam ab. Mit jedem Zentimeter, den sich die sprühenden Funken der Wunderkerze weiter nach unten fressen, verschwimmen Grenzen und tauen Gefühle auf. Werden in grelles Licht getaucht und tanzen bis zur Dunkelheit mit einem Hauch von Nostalgie miteinander, erzittern und fliegen sich in einem lichtdurchtränkten Gefäß durcheinander. Ein Moment für die Ewigkeit.
In der nächsten Umbaupause dröhnt die Musik laut und kleine Challenges werden vor der Bühne ins Leben gerufen. Eine Mama wird angerufen, erheitert das Festivalgelände, und der Schubkarren mit Bierdosen macht ein weiteres Mal die Runde. Aus dem Auto neben der Bühne qualmt weißer Rauch, auf die Heckscheibe wurde liebevoll der Schriftzug „Mit’m Twingo bis an Arsch der Heide“ nachgestellt und die Seitentüren ziert der Bandname der Headliner „The Snouts“. Die Nacht zieht immer weiter ihre Kreise und die Band hat eine amtliche Stunde Verspätung, die durch laute Musik verschönert wird. Wie eine kleine, private Party, aber trotzdem sitzt jeder an den vorgeschriebenen Tischen. Auf den Ohren dröhnende Klänge, scherzhafte Gespräche und immer mal wieder Fetzen des Soundchecks.
Nach wenigen Sekunden wird klar, warum The Snouts den Abend abrunden dürfen. Trotz viel zu vielen Stunden Anreise wissen die Musiker, die Stimmung binnen Sekunden wieder anzuheizen. Rockiger Punk mischt sich mit der klaren Stimme von Sänger Jeremy. Wenig Akkorde, aber dafür viel gute Laune und nach vorne treibende Drums. Nur zu dritt auf der Bühne werden schon bald die ersten Rufe nach Rudi laut, der als Merchandiser der Band unterwegs ist, aber auch das Publikum mit flüssiger Verpflegung versorgen soll.
The Snouts bauen ein witziges Szenario auf, werfen Zündstoff in den Himmel und explodieren schließlich mit dem Publikum. Auch wenn sich die Reihen gelichtet haben, ist es umso lauter und energieerfüllter und zwischen verglühten Wunderkerzen und dem schnell blinkenden Auto wird die Zeile „Komm, wir scheißen heute auf die Welt für den Moment“ zum Motto des Abends. Wird eingetaucht in Euphorie und untergetaucht in Endorphinen, wird mit lautem Krach aus dem Fenster geworfen. Und The Snouts springen direkt hinterher, als Rudi die Bühne betritt. Mit imaginärem Feuerwerk lädt er zum Anstoßen und zum sich vergessen ein, trichtert auf der Bühne zwischen den Songs und versorgt die Fans mit Freigetränken.
Die Welt dreht sich viel zu schnell, als Jeremy und Rudi schließlich auf das Dach des Twingos klettern und von dort einen Song performen, während sie in weißen Nebel gehüllt werden und laute Riffs zaubern. Der Abend hat gerade erst so richtig an Fahrt aufgenommen, als er auch schon wieder vorbei ist – und „die Band, über die alle reden“ wieder die Bühne verlässt.
Fotos: (c) Mihanta Fiedrich. Vielen Dank an das Baller-Ina Festival für die Möglichkeit!