Seit Wochen fegen Rufe des Widerstands, des #immerwiederniewieder, des laut werden gegen rechts durch jedes noch so kleine Örtchen. Solidarisieren sich, ziehen Jung und Alt auf die Straße und vereinen in einer gemeinsamen Überzeugung. Und es scheint, als wäre das Forum Bielefeld noch ein weiterer Halt dieser viel zu lange zurückgehaltenen Bewegung. FJØRT tischen mit Still Talk im Vorprogramm auf – und bringen all die angestaute Wut mit, all den Frust, all die Sorge. Liefern ein Ventil, das alles schluckt. Zumindest für einen Abend. Denn wenn sich hier eine Faust erhebt, tun es ihr alle anderen gleich. Wenn Chris und David ans Mikrofon treten, leiht das Publikum ihnen Stimmen, Ohren – und Herzen.
Gegenüber vom Bahnhof bietet das Forum einen überraschend gemütlichen Rückzugsort für Gefühle, denen es draußen zu einsam ist. Die hier ihre warme Jacke ablegen können, bei einer Partie am Kicker ins Grinsen kommen und bei einem oder zwei Getränken auf den Abend anstoßen. Hier scheint die Welt in Ordnung, denn das Forum füllt sich erstaunlich schnell mit Menschen, die diese Gefühle auch teilen. Die sich sonst laut auf den Straßen wehren, aber sich für heute auch einfach mal nur im Moshpit verlieren oder an der Bar vergessen wollen.
Still Talk machen den Anfang. Die Band aus Köln tritt mit einem Selbstbewusstsein auf, das dem Abend gleich von Beginn an ein Lächeln verpasst. Aber nicht nur das. Trotz des kurzen Bühnenslots nimmt sich Sängerin Tanja die Zeit, um einen Rahmen zu schaffen für Trauer, Depressionen und mental health. Weil das so wichtig ist, dem Platz zu lassen, wenn Musik unter die Haut geht. Scheinwerfer begleiten sie – und für die zerbrechlichsten Momente wird sie in ein Licht getaucht, das gleichzeitig ihre Gefühle hervorhebt wie auch den Zuschauer*innen Platz gibt, in eigenen Gefühlen zu versinken.
Nur um dann im nächsten Song mit dem Lautstärkepegel auf Tuchfühlung zu gehen und unter Soundwuchten sich die Seele aus dem Leib zu schreien. Still Talk füllen das Forum mit Energie, die gehört werden will. Die sich wie Nebelschwaden durch den Raum zieht und den Kopf gleichermaßen wie in Watte packt wie wachrüttelt für all die Gespräche, die sonst hinter das Gitter „Tabuthemen“ gesperrt werden.
„Seid aufmerksam. Danke fürs Zuhören.“
Und dann – FJØRT. Die Umbauplaylist verstummt, ein Intro zieht sich in die Länge, bis die Lichter auf der Bühne erlischen und Applaus erklingt. Ungeduldig, aber vor allem erwartungsfreudig. Das letzte Mal 2016 im Forum. Jetzt mit dem Album „nichts“ aus 2022 und der neuen Single „puls“ im Gepäck. Aber nicht nur das. Wenn FJØRT auf der Bühne stehen, ist die Stimmung gleich eine andere. Als hätte man eine Kerze ausgepustet und inmitten des sich verflüchtigenden Rauch erglimmt der Docht wieder – und die Flamme brennt wieder, stärker als zuvor. Schenkt Wärme denen, die sie brauchen und droht, alles zu verbrennen, das ihr näherkommt. Zwischen einer unüberwindbaren Instrumentenwand verstreuen FJØRT Songs der neuen Platte, wohldosiert mit älteren Publikumslieblingen.
Und zwischen den Songs so viel Klangteppich, dass die Welt Zeit zum Atmen bekommt. Sich in Gedanken verlieren kann und sich gleichzeitig nähersteht als zuvor. Ganz bei sich und trotzdem ganz weit weg. Wie die Ruhe vor dem Sturm, wie die Sekunde bevor die Wellen an die Brandung schlagen. Einen Moment auftauchen und nach Luft schnappen, um im nächsten Moment wieder mit gesogen zu werden. Der Bass wummert bis in die letzte Kammer des Herzens, legt verschlossene Türen frei und lähmt wunde Gedanken. Hier ist es okay, zu sein. Hier ist es gut, zu sein.
„Danke, dass ihr uns eure Augen, Köpfe und Ohren leiht. Dass ihr mitdenkt, mitfühlt, mittanzt und mitschwitzt.“
Kurze Pausen, aufbrandender Applaus. Kurze Pausen, angehaltener Atem. Und dann wieder die alles einnehmende Schwere. Texte, die unter die Haut gehen. Satzfetzen, die sich einbrennen. Immer wieder die Frage nach einem „was wäre wenn“, nach dem eigenen Platz da draußen und der eigenen Verantwortung. Von wegen durchatmen. Bei FJØRT gibt es kein Abschalten, kein Verdrängen. Es ist viel mehr ein sich vergegenwärtigen, ein sich seiner selbst bewusst machen. Aber es ist ein gemeinsamer Prozess, ein gemeinsames Denken, und das ist das Schöne daran.
„Sag, wie ist es dir so ergangen? – Ach, ich hab mich in der Schwärze verfangen und steh jetzt in Flammen. Das wär dann alles, war echt toll, ich leg jetzt auf.“
Beitragsbild: (c) Sophia Roßberg