Weltliebe, Sonnenuntergangsromantik und Paralleluniversen

Das Termometer zeigt locker 30°C, die Wiese kräuselt sich unter dem leichten Wind und sehnsuchtsvolle Gefühle flackern durch die Menge. Hinter der Bühne erstreckt sich ein großer Hügel, daneben eine hohe Brücke und darüber bunte Heißluftballons, während vor den ersten Barrikaden neugierige Fans warten. Auf dem Banner vor dem Einlass steht in Großbuchstaben die Aufschrift „Picknick Konzerte Dresden“ – direkt darunter Acts wie LEA, Giant Rooks, Provinz und Faber.

Die Schlange erstreckt sich bis zum Parkplatz, noch wird der Abstand gut eingehalten und das laute Gerede wird immer wieder durchbrochen durch die auf dem Gelände laufende Playlist, in der das „1982“ Album von Casper und Materia oder auch „500K“ von Kraftklub für Euphorieüberschüsse sorgen. Niemand scheint davon genervt, anstehen zu müssen – viel mehr kribbelt in jedem die Vorfreude auf ein wirkliches Konzerterlebnis, das bei den meisten wohl mehrere Monate zurückliegen muss.

Zwischen sommerlichen Shirts und Sonnenbrillen hält jeder unter dem Arm oder in eine Tasche eingequetscht eine Picknickdecke, hat von Chips bis zu Esspapier die verschiedensten Snacks verstaut und neben vorfreudigem Grinsen eine große Portion gute Laune eingepackt. Heute steht nämlich das Picknick Konzert mit Giant Rooks an, die gestern schon in Leipzig gespielt haben und heute auf dem Gelände der Rinne Dresden gleich zwei Konzerte geben. Die Nachmittagsshow ist zwar schon rum, aber noch immer hängt die Euphorie einer Liveshow in der Luft und vorfreudig tänzeln Fans und Freunde auf der Stelle, wartend darauf, dass der Einlass beginnt.

18:30 – Die ersten Picknickdecken werden vor der Bühne ausgebreitet, mit einem Zollstock wird der Abstand zur nächsten Decke abgemessen, die Tickets werden gescannt und leider kann aber auch das für ein Konzert so typische Drängeln nicht vermieden werden. Dass der Kontakt zueinander so weit wie möglich eingeschränkt werden sollte, haben ein paar der vorfreudigen Fans wohl ein Stück weit vergessen – schade, da niemand von einem zweiten Shutdown der Kulturszene profitieren würde und keiner wohl noch die „richtigen“ Konzerte ohne Abstand und ohne Maskenpflicht außerhalb des eigenen Platzes abwarten kann.

Aber bis es so weit ist, sind die von Landstreicher innovativ veranstalteten Picknick Konzerte eine der wenigen Möglichkeiten, Kultur auch in diesen schwierigen Zeiten zu leben und Künstler*innen und Fans wieder näher zueinander zu bringen als nur durch den abertausendsten Livestream auf dem verschmierten Handydisplay. Auf dem Gelände selbst fällt besonders der Aperol Spritz- und der Merchandisestand auf, die auf der gegenüberliegenden Seite der riesigen Bühne aufgebaut sind. Bunt erwartet auf dieser das Giant Rooks Backdrop, links und rechts neben riesigen Bannern mit der „Picknick Konzerte“ Aufschrift sind große Leinwände drapiert, auf denen die Show später mitverfolgt werden kann.

Noch sind sie schwarz, gemächlich füllt sich der Platz immer mehr – die Schlange scheint kein Ende zu nehmen – und Wiedersehensfreude wird untermalt durch das Gefühl, endlich anzukommen. Bunte Picknickdecken machen den Platz gemütlicher, rings drum herum stapeln sich Schuhe, kleine Picknickkörbe und die Sorgen der letzten Monate, die langsam entweichen und von der lauten Musik bald weggetragen werden sollen.

Was zählt, ist das Hier und Jetzt und die Band, die pünktlich um 20 Uhr die Bühne betritt, laut umjubelt und so schnell nicht mehr gehen gelassen wird. Lang ist es her, dass Giant Rooks so ein konzertreiches Wochenende spielen durften und umso größer die Freude und Energie, die sich auf den von der Sonne angestrahlten Gesichtern der Band widerspiegelt.

Und dann setzt die Musik ein und auf einmal ist die Welt wieder heile. Einzelteile werden zusammengeflickt und mit einer großen Rolle Panzertape aneinander geklebt, bis der erste Song Form annimmt und die verschiedenen Instrumente sich auf- und übereinander legen. In dem Moment, in dem Frederik anfängt zu singen, scheint es kurz so, als würde der ganze Platz die Luft anhalten – nur, um sie dann Sekunden später in kleinen Rufen der Euphorie wieder auszuatmen.

Wie gesteuert von der Magie der Musik raffen sich die einzelnen Körper zusammen und stehen von den Picknickdecken auf, schütteln mit einer kurzen Bewegung Anspannung und Ungewissheit von den Schultern und gehen langsam in den sanften Klängen auf. Den Anfang macht „The Birth Of Worlds“, das genauso kunstvoll ist wie sein Titel und wahrlich dafür sorgt, dass gerade in diesem Moment ein Paralleluniversum voller Lebensfreude und Weltenliebe unter einem zischenden Trommelwirbel seine Pforten öffnet und ein unsichtbares Band zwischen jedem Konzertbesucher und dem Quintett auf der Bühne knüpft.

Die nächsten anderthalb Stunden fühlen sich wie ein Traum an. Wie ein Traum, in dem der Himmel in ein rosafarbenes Licht getaucht ist, in dem die Vögel lauter als je zuvor singen und in dem neben Sonnenscheinromantik, Musikgeflüster und Picknickdeckenwärme nichts anderes mehr zählt. Wie ein Traum, in dem die ganzen Corona-Leugner auf einmal wie weggewischt sind und in dem sich alle vor lauter Freude und Lebenslust in den Armen liegen, weil es einfach keinen Grund gibt, aufeinander böse zu sein – und der Soundtrack zu diesem Traum setzt mit dem nächsten Song „Heat Up“ ein.

„While the lovers in the nighttime / They move, they move like fireflies / I wanna move, too / I wanna move you / Oh, I wanna move with you“

„Heat Up“ wird genauso wie „The Birth Of Worlds“ Teil des Debüt-Albums der Band sein, das den stolzen Titel „Rookery“ trägt und am 28. August erscheint. Der Sound ist kraftvoll, energiegeladen und dabei so weit entfernt von und doch irgendwo ähnlich zu der bisherigen Diskografie der Band aus Hamm. Live stellt er sich als besonders tanzbar heraus – besonders der Refrain lässt die Füße nicht mehr länger am Boden stehen und den Kopf in den Wolken versinken. Liegt vielleicht auch an den verschiedensten eingebauten Details, wie die Claps, die Euphorie im Schlagzeug kurz vor dem ersten Refrain oder die Background-Gesänge, die immer wieder von Finn und Luca vertont werden.

„Vielleicht habt ihr es schon mitbekommen, aber wir sind gerade dabei, ein Album zu schreiben.“

Auch der nächste Song „Bright Lies“ der Debüt-EP „New Estate“ kommt an. Irgendwann umschlingen sich warme Arme, und Gesichter, in denen das Lächeln noch viel höher strahlt als nur bis zu den Augen, sehen einander an, nehmen einander wahr und gehen unter in der sphärischen Musik. Auch wenn der Song hier zum Mitsingen und Feiern einlädt, ist er geprägt von Herzschmerz, verletzender Distanz und emotionsschweren Zeilen. Der Name „Ophelia“ mitten im Song wird übertragen auf die eigenen Gefühle und aus voller Kehle losgelassen, ist die Musik live doch viel energiegeladener als auf Platte und setzt gefühlvoll in Flammen.

Voller Inbrunst führt die Band durch ein Set, dass immer und immer wieder mit seiner Energie und Kraft begeistert und auch den letzten dazu bringt, erleichtert aufzuseufzen und alles loszulassen. Befreit, beflügelt und begeistert davon, wie das Publikum die Musik aufnimmt, wie die Band jeden Ton perfekt trifft und wie sie die nächste Melodie, den nächsten Schlag und die nächste Harmonie direkt darüber stapelt, wird der Abend immer ausgelassener.

Während Seifenblasen über den Platz wehen, geht die Sonne langsam unter, die Musik bahnt sich immer näher ihren Weg in das Herz, das sehnsuchtsvoll schneller schlägt, um den Anschluss nicht zu verlieren und stets in Gedanken ganz vorne dabei zu sein. Und Frederik stellt lachend fest, dass sein Schuh – der braune, vornehme Lederschuh von seinem Vater – soeben kaputtgegangen ist. Zum Glück gibt es Panzertape und die Aufforderungen zum „Ausziehen“ (natürlich wird nur gefordert, dass er seinen Schuh ausziehen soll. Was denn sonst) werden begleitet von freudigem Gelächter.

„Clara Declares War“, das sich auf der EP „Wild Stare“ finden lässt, besteht aus einem einzigen Sample. Ein Sample, das von Cara Delevingne gesprochen ist, das Gänsehaut auslöst und kurz innehalten lässt, bevor „100 mg“ angestimmt wird. Auch, wenn Giant Rooks keine Worte darüber verlieren, ist es wichtig, dass das Sample Teil des Sets ist – einfach, weil sich viele der Wahrheit dahinter nicht bewusst sind.

Der Wahrheit, die auf diesem Konzert gefunden werden kann, wenn man mit offenem Herzen die Musik der jungen Band wahrnimmt. Mit den warmen Tönen, den rücksichtsvollen Ansagen und dem breiten Lächeln auf den Lippen erschaffen Giant Rooks einen sicheren Platz in ihrem Herzen, in dem jeder einzelne einen kleinen Rückzugsort findet. Einen Platz, um sich geborgen und nicht diktiert von Influencern und Instagram zu fühlen, die gerne Gefühle und Charakter außen vor lassen.

„In our culture we are told that if we’re beautiful, if we’re skinny, if we’re successful, famous, if we fit in, uhm, if everyone loves us that we’ll be happy but that, that’s not entirely true, uhm, and this is what I warned you about basically.“

Live lässt Frederik sichtbar alle Energie heraus, die sich in den vergangenen Monaten angestaut hat. Ob er jetzt von der einen zur anderen Seite tanzt, im Takt seinen Körper für sich sprechen lässt oder immer wieder Schritte in Richtung der Fans wagt – er schafft es, die Musik noch lebendiger wirken zu lassen. Aber auch die anderen Bandkollegen werfen immer wieder grinsende Blicke in Richtung Publikum. Es muss ein tolles Gefühl sein, endlich wieder eine feste Bühne unter den Schuhen zu haben und vor Menschen zu spielen, die extra angereist sind und sich Karten gekauft haben, um einen Abend lang zusammen Musik zu leben.

Natürlich ist es nicht das gleiche wie vorher – die Aufforderung zum Mitsingen klappt eher schlecht als recht, da sich durch den Abstand zumindest in den hinteren Reihen nicht getraut wird, lauthals mitzusingen und eher vereinzelte Stimmen als ein ganzer Chor herauszuhören sind. Auch, wenn die erste Reihe es fantastisch vormacht und die Band immer wieder zum Schmunzeln bringt. Aber dafür klappt das Tanzen bei den meisten gut und gegen Ende des Sets bilden sich sogar kleine Moshpits auf den Picknickdecken. Surreal und unvorstellbar, aber trotzdem wahnsinnig schön lassen diese kleinen Einzelheiten untereinander die Konzertsehnsucht nur noch stärker wachsen.

Während Spaziergänger Fahrräder den Hügel hinter der Bühne hinaufschieben und es sich dort gemütlich machen, bauen Giant Rooks in der neusten Single „Missinterpretations“ Kuhglocken und stimmungsvolle Instrumentals ein. Jeder Song des Sets zieht sich überraschenderweise länger und wird kunstvoll aufgefüllt mit kleinen Solis und viel Raum für die verschiedenen Instrumente, die mal laut und mal leise klingen und in der Form leider keinen Raum auf der Platte gefunden haben.

Umso wertvoller finde ich es, dass diese Stellen live ausgearbeitet und perfektioniert zum Vorschein kommen – und gleichzeitig dazu einladen, den Kopf einfach auszustellen und stumm den Klängen zu lauschen, die dem Sonnenuntergang seine Farbe geben.

Auch definitiv ein Highlight ist der noch unveröffentlichte Song „Wallet City“, der mit seiner stimmungsvollen Melodie nur so zum Tanzen einlädt und eine große Portion Endorphine verschüttet. Fühlt sich an, als wäre der 80er-Club endlich wieder offen und man für eine private Party nur unter Freunden – verrückte Dancemoves bis hin zu ausgedachten Challenges ziehen sich durch den ganzen Abend, der geprägt ist von der ungehemmten Melodie auf Synthesizer und Gitarre.

Orange, gelb und kleine Sprenkel von rosa mischen sich mit dem wolkenüberzogenen strahlend blauen Himmel, der geziert wird mit Flugzeugspuren und Vogelschwärmen, während „What I Know Is All Quicksand“ einsetzt. Weg von einprägsamen Refrains, hin zu mitreißend vielfältigen Möglichkeiten betritt der Song eine ganz andere Welt.

Den verschiedenen Stimmen der Band wird Platz gegeben nach plötzlicher Stille, die Realität verschwimmt zusammen mit der mitten im Lied zusammenbrechenden und sich dann wieder neu aufbauenden Struktur des Songs. Auch live hebt er vom Rest ab – die letzten Zeilen singt die Band wie ein Mantra, bis nur noch Fred mit seiner Akustikgitarre auf der Bühne steht und seine Stimme ausdrucksstark über den Platz tragen lässt. Augen geschlossen, die andächtige Stille genießend, die Hände nah am Herzen, um das zu beschützen, was wichtig ist.

Dieses Picknick Konzert ist eine der Sachen, die definitiv noch lange im Herzen behalten wird. Ob es jetzt an der detailreich ausgearbeiteten und wirklich sauber gespielten Musik der Band auf der Bühne liegt, an den beiden Zugaben, die noch einmal die letzte Power freisetzen, oder eher an den Zwischenmenschlichkeiten, die stets auf ein befreites Grinsen und kopfschüttelnde Späße hinauslaufen oder doch an dem Gefühl, Teil von etwas ganz großem, ganz einzigartigem zu sein – ein kleines Stück des Abends wird wohl für immer ganz weit hinten im Herzen verstaut werden und durch Erlebnisse, die ungeahnt in der Zukunft vor sich hin schimmern, ergänzt und beschützt werden.

Fotos: (c) Mihanta Fiedrich / Gedankengroove. Vielen Dank an Landstreicher für die Organisation, Umsetzung und die Möglichkeit! Und ja, versprochen – bei den nächsten Bildern bekomme ich auch das mit dem Licht besser hin.