Wasserfluten peitschen über die dunkel gewordenen Straßen und der Himmel bricht über dem wolkenverhangenen Berlin zusammen. Hektische Gesichter spiegeln sich in asphaltierten Pfützen, eingehüllt in regentriefende Schals und wärmende Mäntel. Bunte Regenschirme spannen sich neben den roten Ampelmännchen, warten auf leuchtendes Grün oder huschen verstohlen zwischen den blinkenden Autos durch die Dunkelheit. Der Privatclub in Berlin-Kreuzberg leuchtet uns mit seinem roten P entgegen, verspricht Wärme und Gastfreundlichkeit nach ungemütlichen Regenschauern, fügt sich nahtlos in die anonyme Häuserfassade ein. Das Ziffernblatt zeigt 19:45, die Berliner Straßen wirken wie leergefegt. Ein paar Häuser weiter und ein paar Geschosse höher leuchtet eine Diskokugel verlegen in dunklen Fenstern, liegen gelassene Cityroller machen sich auf dem Gehweg breit. Das bunte Berlin, das ich mir immer ausgemalt habe, hat sich hinter den dunklen Wolken versteckt. Nur die auffällig plakatierten Litfaßsäulen lassen darauf schließen, dass hinter den versteckten Gesichtern noch Leben herrscht.
Und genau dieses Leben finde ich dann doch im Privatclub. Schnell verblassende Stempel zieren nasse Handgelenke, der 2G-Nachweis wird kontrolliert, drinnen dürft ihr eure Maske abnehmen, wenn ihr euch damit wohlfühlt, Ticket vorzeigen und mit der Luca-App einchecken. Die schwere Tür wird aufgestoßen, aus dem Club schwappt eine Welle wohlige Wärme und glückliches Geplänkel nach draußen. Die Bar füllt den vorderen Bereich, die Plätze sind allesamt besetzt mit dicken Jacken und sich langsam wieder aufwärmenden Körpern. Gegenüber versteckt eine gemütliche Sitznische mit durchgesessenen Sofas und getränkegefüllten Tischchen. Dahinter, Platz zum Tanzen, die Garderobe neben der Bühne, paar Meter davor noch ein Tisch verziert mit Merchandise. Das Banner der ersten Band des Abends lehnt an der Bühne und trägt den lauten Schriftzug NEEVE, einer 2018 durch die zwei Geschwisterpaare Felix und Axel sowie Marius und Philipp gegründeten Indie-Pop-Band. So langsam wagt sich Berlin aus seinem Versteck und präsentiert sich auf meinem ersten Konzert in der Hauptstadt mit vielen fremden Akzenten und bekanntem Lächeln von Menschen, die viel zu lange auf Clubkonzerte warten mussten. Die Diskokugel steht still, erinnert selig an durchgetanzte Nächte und Leben, das sich ineinander verliert.
Wenige Minuten nach acht, die vier Bandmitglieder von NEEVE durchqueren den Raum und erklimmen unter noch verhaltenem Applaus die Bühne. Die ersten Töne erklingen und einen Wimpernschlag später ist die Tanzfläche gefüllt mit Grinsen und Gläsern. Besuchende bewegen sich im Takt, versuchen, sich wieder an die Atmosphäre der Clubkonzerte zu gewöhnen. Verschwinden in der Anonymität der spärlichen Beleuchtung, schimmern bläulich, während die Band an Farbe gewinnt. Berlin, seid ihr gut drauf? Und wie. Schon der zweite Song „Lose It All“ füllt die Luft mit Energie und lässt Raum zum Bewegen. Und den nutzt jede*r auch dankbar – vielleicht ist gerade an so einem regenverhangenen Abend der unbewusst eingehaltene Abstand gar nicht so verkehrt. Kein Drängen und kein Schubsen, schief lächelnde Entschuldigungen bei versehentlichem Körperkontakt. Berlin ist nicht nur gut drauf, sondern auch wahnsinnig lieb zueinander. Keine Rivalität untereinander und kein Anstacheln, vorsichtige Fragen, ob sich zwei Englischsprechende vor uns stellen können. Die großen Menschen verziehen sich aus der ersten Reihe, als sie merken, dass die Kleineren des Abends nicht recht sehen können.
Und währenddessen liefern NEEVE auf der Bühne eine Show ab, die viel zu groß für die kleinen Bretter scheint. Der rote Vorhang im Hintergrund untermalt die schwebenden Melodien und träumt sich davon auf die Bühne eines großen Theaters, gefüllt mit grinsenden Gesichtern und vielleicht auch mit Händen, die Schilder mit dem Bandnamen hochhalten und so laut jubeln, dass die Euphorie ihren Weg bis auf die Straße findet. Groß träumen darf wohl jede*r – und mit den mutigen Melodien im Ohr fällt das auch nicht schwer. Die Realität hingegen ist aber auch nicht viel schlechter. Jeder angebrochene Song bringt seinen wohlverdienten Applaus mit und jede gesungene Zeile wird von Lippenpaaren begleitet, die zu Hause viel zu lange auf den Moment gewartet haben, die Texte endlich voller Inbrunst nach draußen zu tragen. „Lose It All“ steckt an mit naivem Größenwahn, aber vor allem mit dem Glauben an den Moment und daran, dass jetzt alles ist, was wir haben. Bloß keine Gedanken an Zukunft und Vergangenheit verschwenden und einfach mal leben – nichts leichter als das mit dem vibrierenden Clubboden unter den Füßen und einem Sound, der Sommer und Lebensfreude verspricht, in den Ohren. Eis am Stiel vom Kiosk im Schwimmbad, aber dann doch lieber Zweisamkeit vorziehen und mit den alten, klapprigen Fahrrädern zum nächsten See radeln. Sonnenscheinromantik und Lebendigkeit, die von den Zehen bis zum Haar kribbelt. Und dann abends beseelt allein nach Hause tanzen, Bluetoothkopfhörer im Ohr und Prickeln im Blut – We’re just gonna live it till we lose it all. Blauverschwommen und Glücksbenommen.
„Up To You“ setzt ein. Von dem ich das Video nur allzu gut kenne. Als soziales Experiment aufgenommen, hat die Band 31 Menschen gebeten, sich für 45 Sekunden lang aufzunehmen und dabei zu reflektieren, wie das eigene Selbstbild aussieht. Was das Gesicht in der Handyinnenkamera mit einem macht und was es in einem auslöst, sich für diese 45 Sekunden ohne Filter, ohne große Realitätsverzerrung zu betrachten. Es geht darum, sich selbst bewusst wahrzunehmen, womöglich unvoreingenommen, ohne die ganzen Masken, die die Gesellschaft aufzwingen will, ohne die ganzen Schubladen, in die die Gesellschaft stopfen will. Und dabei vielleicht auch zu reflektieren, wie mensch selber andere Menschen wahrnimmt und was eigentlich alles für Vorurteile im eigenen Kopf herumspuken. Verpackt in den fröhlichen Indie-Sound, der so prägend für NEEVE ist. Dem glücklicherweise auch die tieferen Themen stehen und der ihnen so Zuversicht verleiht, ohne sie dabei um ihre Ernsthaftigkeit zu betrügen. Die Hände fliegen in der Luft, finden im Takt zueinander und kurbeln die energiegeladene Atmosphäre an, die auf der Bühne nur so vor Funken sprüht.
Der Song klingt aus, endet in Applaus. Die neuste Single „WHERE I WANNA BE FOUND” findet ihren Anfang und klingt schon in den ersten Sekunden nach Aufbruch und nach neuen Horizonten. Auch hier fehlt die Euphorie der letzten Songs nicht, aber trotzdem hat sich das Klangbild geändert. Statt schwerelosen, ausgemalten Landschaften ziehen vor dem inneren Auge hier ganze Abenteuer vorbei, werden Höhen und Tiefen ausgestaltet, liebevoll schattiert und mit zahlreichen Details geschmückt. Bunte Farbtupfer füllen blühende Ebenen, ganze Jahreszeiten spiegeln sich in dem Kontrast der Berge und Täler wider. Pusteblumenstaub schwebt durch die Luft, wird getragen von geflüsterten Wünschen. Zärtlich und zurückhaltend beginnen die Melodien, ihren Weg durch den Song zu finden, um Sänger Felix Zeit und Raum für seine Geschichte zu lassen. Die Zeilen erzählen von gähnender Leere und aussichtslosen Höhen, vom täglichen Kampf gegen den eigenen Schatten, der in noch tiefere Tiefen locken will und nehmen dann zusammen mit den Instrumenten Anlauf zum Refrain, um Hoffnung zu schenken für kleine Lichtblicke, in denen die Sonne die kalt gewordenen Augen zum Strahlen bringt und der warme Wind die Lippen zum Kräuseln. Für ein Lächeln reicht es zwar noch nicht, aber das Ziel ist wenigstens ein bisschen weiter in Aussicht.
Verträumt bahnen sich die Melodien ihren Weg entlang der düsteren Zeilen, schmücken mit Zurückhaltung und dann doch gleich wieder mit Zuversicht. In dem Song erwacht die Diskokugel imaginär zum Strahlen, noch mehr Beine finden ihren Weg auf die Tanzfläche und Hände wieder und wieder zueinander. Fast schon hymnisch besingt Felix das Scheitern und das Wiederaufstehen, die Angst und die Hoffnung. Zwei Gegenpole, die sich nicht nur im Text, sondern auch im Zusammenspiel von Rhythmus und Zeilen widerspiegeln. Denn trotz der geschilderten Tiefen bleiben die Instrumente stets dynamisch, das Schlagzeug verliert nie seinen Anschluss und so zeigt die Musik, dass es immer weiter geht. Dass Aufgeben keine Option ist und der Anspruch stattdessen darin liegen kann, auf das eigene, persönliche Ziel hinzuarbeiten, eben daraufhin, wo man gefunden werden möchte. Bewusst lässt Felix diesen Ort offen, zeichnet ihn vage als seine Leidenschaft, lässt für jede*n Interpretationsraum für den ganz eigenen „safe space“.
„BLACK AND BLUE“, titelgebend für die bereits dritte EP der Band, nimmt die Achterbahnfahrt der Gefühle weiter auf und thematisiert den Umgang von Sänger Felix mit ADHS. Melancholischer angehaucht als die anderen Songs ist diesem hier weder nach einem Moshpit noch nach Freudentaumel, sondern viel mehr nach ehrlichen Gesprächen und einer Welt, die sich wieder vernünftig drehen kann und nicht überall anecken muss, weil das Umfeld nicht mit den eigenen Problemen zurechtkommt. Die blauen Scheinwerfer streichen über leichtes Lächeln und Arme, die sich sanft bewegen, während der Kopf die Zeilen noch verarbeiten will. Sich Zeit lassen will und sich mal kurz zurücknimmt in einem Set, in dem sonst ein energiegeladener Refrain den nächsten jagt. Wo sonst die Sorgen wegtanzen großgeschrieben wird, steht hier Gefühlsreflexion und Selbstliebe im Vordergrund.
Die Welt liegt uns zu Füßen. Warum eigentlich nicht? In den Refrains fliegen NEEVE bis ganz nach oben, erklimmen Baumkronen, berühren Gipfelkreuze, lachen über dem Abgrund die Angst weg. Die euphorischen Melodien tragen das Echo des Donnerstagabends weit über die Köpfe der Menge hinweg, drehen ihre Runde durch den Club und nisten sich ein in schlagenden Herzen, die den Aufruhr vom Aufbruch verspüren. Immer lauter schallen die Stimmen aus dem Publikum bis zur Bühne, wann immer Felix das Mikrofon in die Menge hält. Indie-Pop, der nie genug kriegt und im Set mit „FALLING FOR YOU“ seinen Höhepunkt findet. Die Band hat das Potenzial dazu, international gesehen zu werden, hat die richtigen Dancemoves im Gepäck und sich so schön in Schale geworfen, dass alles aufeinander abgestimmt ist und dann doch irgendwie nicht richtig auf die kleine Bühne passt, die auf einmal wie einengend wirkt. Die bunten Lichter, die das beständige Blau abgelöst haben, bestätigen das nur. NEEVE sind wie geschaffen für die großen Bühnen, für fein herausgeputzte Abende und anschließende riesige Aftershows, auf denen der Dresscode weggetrunken wird.
Ein letztes Highlight gibt es für mich dann noch, bevor die Band ganz ohne Zugabe die Bühne verlässt. „BYE BYE“ heißt es im Programm – „aber nicht an euch, sondern an toxic masculinity!“. Begleitet von eindringlichen Synthesizern und einer fröhlich-wabernden Soundwand setzt die Band ein Zeichen, das in unserer Gesellschaft schon lange überfällig ist. Und während es in „Up To You“ nur um generelle Vorurteile ging, wird NEEVE hier konkreter und wirft das typische Schwarz-Weiß-Denken, die ganzen Klischees um Geschlechterrollen und die altbackenen Auffassungen über Geschlechtsidentitäten über den Haufen und räumt stattdessen auf mit einer warmen Umarmung, in der niemand außen vor gelassen wird und alle willkommen sind.
Das Banner von NEEVE wird umgeklappt, die Bandmitglieder finden ihren Weg zum Merchandise-Stand, der immer voller wird. Gegenseitige Dankbarkeitsbekundungen, T-Shirts wechseln den Besitzer. Die Bar füllt sich langsam wieder und die rote Toilettenbeleuchtung erhellt im Sekundentakt den engen Flur davor. Vor dem roten Vorhang thront jetzt stolz ein verschnörkelter Schriftzug, der den Namen der nächsten Band, Fullax, verrät. Laute Musik macht es fast unmöglich, sich zu unterhalten, aber noch schweben alle, gefangen in der Euphorie, die nach dem NEEVE Konzert noch nicht nachgelassen hat.
Lauter Applaus, Julian und Jonas betreten die Bühne. Das Duo kann live auf die Unterstützung des Bassisten Magnus Ernst zählen, trotzdem macht der zusätzliche Raum vorne einen großen Unterschied im Vergleich zur letzten Band. Der Enge von NEEVE stellen Fullax eine lässige Weite entgegen, können sich den Platz herausnehmen, den sie brauchen und der ihnen zusteht. Die Kombi aus Magnus am Bass, Julian an Synthis, Gesang und Gitarre und Jonas am Schlagzeug ist eindrucksvoll.
Wie auch das 2020 erschienene Album, zu dem es bereits eine Review auf Gedankengroove gibt, eröffnet auch das Set des heutigen Abends der kurze und schmerzlose Track „1000 Karat“ und hüllt die Atmosphäre in die vom Album bekannte schwebende Melancholie. Jacken beiseitelegen, erst einmal ankommen. Fullax zeigen, dass sich die Musik in ihrer Stimmung zwar von der von NEEVE unterscheidet, aber in dem nächsten Titel „Die Nacht“ dieselbe Leichtigkeit aufweist. Davonfliegen, oder für immer untertauchen. Beide Türen stehen offen.
Leuchtröhren und verlassene Gänge verstecken sich hinter „Geisterbahn“, der neusten Single des Duos. Herabfallende Blätter, einsames Windrauschen und ein Farbenspiel zwischen trist und zögernd begleiten den Sound. Die Synthie-Samples schweben durch den Song, ergreifen die Hände der Besuchenden und ziehen mit in einen Sog, der angestrahlt wird durch die erblühende Hoffnung des Refrains. Noch ist es Herbst, das Wetter dort draußen wegen des angekündigten Sturms bedrohlich, aber hier, im Refrain, scheint es auch wieder Frühling werden zu können. Metaphorisch besingt Julian Depressionen, Ausweglosigkeit und den immer wieder betonten Hilferuf nach Unterstützung; nach einer Stütze raus aus der Einsamkeit, einem Anker inmitten peitschender See und einem Mitfahrer bei der Geisterbahnfahrt im eigenen Kopf. Untermalt von einer Lichtshow, die den ganzen Club und mit ihm auch gleich alle Gesichter zum Strahlen bringt. Ein Konzept, das auf jeden Song, gar auf jede Strophe, jeden Refrain und jedes Interlude abgestimmt ist. Im Opener noch ganz weiß, zu „Beverly Hills“ in bunt leuchtenden Farben und während „Fake“ dann Hand in Hand mit jedem Ton durch schnell flackernden Strobo unterstützt. Und das alles zentriert um den „Fullax“ Schriftzug, der sich in den Augen einbrennt. Und dann ganz erlischt, als sich die Instrumente in einem langgezogenen Outro verausgaben. Immer wieder fallen Lichtstrahlen auf Besuchende, die schon nach paar Songs euphorisch in die Zeilen mit einsteigen und sich mitnehmen lassen. Selber Passagiere einer Geisterbahn sind, die mit mehreren Menschen an der Seite gleich weniger bedrohlich und stattdessen herzlich einladend wirkt.
„Geisterbahn“ wird abgelöst von „Egal“, dessen Melodik den Sommer mitbringt. Links und rechts verschwimmen, als der Refrain die Tür eintritt und den Club kurzerhand in ein Meer aus tanzenden Körpern verwandelt. Fast schon hymnenartig schallen aus dem Publikum die Zeilen bis an die Decke, bringen die Diskokugel zum Drehen und den Boden zum Beben. Donnerstagabend, aber trotzdem so lebendig, als würde die Nacht ewig weitergehen und der neue Werktag mit all seinen Verpflichtungen nie wieder anbrechen müssen. Als könnten alte Wunden ein für alle Mal vergessen werden und als könnte man sich noch einmal komplett neu verlieben; in das hier, in diesen Moment. Der dann auch mit den nächsten Songs nicht abbricht und stattdessen auf eine weite Reise von düsterer Depression bis hin zu emotionsüberkochter Euphorie einlädt.
Zwischenstopp mit Bennet von „AB_Syndrom“, der für einen gemeinsamen Song die Bühne erobert. Der Songtitel „Polizei“ fällt immer öfter, geht unter in der kochenden Euphorie auf der Bühne und in dem Publikum, das den Sänger des Berliner Duos nur allzu fröhlich begrüßt. Der sich nach dem Song wieder in die Menge und einige Refrains später in den ersten Moshpit des Abends stürzt. Aber bis dahin durchläuft das Set noch weitere Zwischenhalte. Nach „Polizei“ schließt sich „Brauner Fluss“ an, der politisch wird und fordert, gegen die rechte Strömung zu schwimmen und nicht zuzulassen, dass der braune Fluss das Meer der Demokratie verunreinigt. Hinter mir Stimmen, die sich angeregt über das unterhalten, was Julian zu dem Song zu sagen hat. Dass man dadurch Follower verliere. Aber gerade deswegen ist diese Abgrenzung wichtig, dieses Klarmachen von Grenzen gegen rechts und das Verpacken der politischen Einstellung in starke Melodien. Auch hier weichen Fullax nicht von ihrem üblichen Soundbild ab, die Synthies werden immer lauter, während der Refrain immer wieder geloopt wird, bis die Message auch im hintersten Winkel des Gehirns angekommen ist. Auch hier wird getanzt und das noch viel mehr im Titeltrack des Albums „Dann Dann Dann“, der sich melancholisch anschließt.
„Dann Dann Dann“ ist die lange Reise ohne Ziel, die hinter jeder Ecke wartet. Ohne die Absicht, so bald wie möglich wiederzukommen, nur mit dem Gewissen, dass die Heimat noch wohlbehalten da sein wird, wenn man genug von der Ferne hat. Doch wo soll es eigentlich hingehen? Das Ziel bleibt in dem durch sich wiederholende Melodien geleiteten Song unklar, die Reise an sich steht im Mittelpunkt. Zusammen mit all den Türen, die offen stehen und verlockend winken. Mit all den Abzweigungen, den Trampelpfaden oder den gut ausgebauten, belichteten Straßen – das Leben bietet so viel mehr, als sich nur in den eigenen vier Wänden zu verschließen. Gleichzeitig kann eine Reise mit offenen Augen auch eine Reise zu sich selbst sein. Um die eigenen Grenzen auszutesten, den Horizont zu erweitern und um herauszufinden, welche Rolle man selber in dem Spiel innehat, das sich Leben nennt. Das sich nicht nur um hübsche Filter auf Social Media und Essensbilder in der Familiengruppe dreht, das ganz ungeschönt in der Realität stattfindet und ohne eine vorgehaltene Linse betrachtet werden sollte. Stattdessen zählt das Ausbrechen aus den verzerrten Filtern, aus der Internet-Bubble und aus der eigenen Komfortzone.
Auf diese Reise entführen Fullax mit schlichten, aber trotzdem aufbrechenden Melodien, die sich in kleinen Details übereinander stapeln und versuchen, voreinander wegzurennen. Der Song baut sich langsam auf, mit flächigen Akkorden, verzerrten Instrumenten und durch Autotune verzierte Sehnsucht. Um dann innerhalb einer Sekunde vollkommen herunterzubrechen auf die Stimme von Julian Giese, der mit ordentlich Hall melancholisch auf Klavierakkorden singt und dem Lied eine dramatische Note verpasst. Mir gefällt hier besonders gut, dass der Song damit so endet, wie er anfängt – nachdenklich, unsicher, aber trotzdem irgendwo gefestigt. Erinnerungen und Zukunftspläne hallen verloren noch lange nach, nisten sich fest und übermalen teilweise bunte Momentaufnahmen.
– Ausbrechende Synthesizer und der Appel an die Weltsicht, Gedankengroove, 2020
„Das endet hier / Ich gehe fort / Sehen uns irgendwann, irgendwann mal wieder.“ – wie passend, dass Fullax nach den letzten ausklingenden Tönen die Bühne verlassen. Wie passend, dass gleich daraufhin laute Zugaberufe einsetzen, die nicht einsehen wollen, auf „irgendwann“ vertröstet zu werden. Das kann noch gar nicht die Endstation sein, noch ist die Reise nicht vorbei, noch kann der Abend nicht seine Schwerelosigkeit an den Tag abtreten. Lauter Applaus, Fullax betreten die Bühne. Julian kündigt eine kleine Zeitreise an mit „Ich mag dich“, der 2014 als Live-Session entstanden ist und überraschend energiegeladen auftritt. Wer eine Liebesballade erwartet, hat seine Rechnung definitiv ohne das „SyindiePop“-Duo gemacht, das in der Zugabe noch einmal auspackt. Das Schlagzeug steht hier fast schon im Vordergrund und treibt den Song an, treibt zwischen Faszination und Unsicherheit. Noch einmal tief Luft holen, dann im Refrain fallen lassen, der im Vergleich zu den neueren Texten mit einer unverletzten Naivität begeistern kann.
Und dann, Endstation, „Absinth“. Der Song, der aus dem Album fällt und hier den krönenden Abschluss bildet mit seiner grenzenlosen Euphorie, den schnell gespielten Gitarrensaiten und dem fordernden Schlagzeug, das den abrupten Höhepunkt einleitet in einen Refrain, der schließlich den Moshpit eröffnet. Die Welt scheint vergessen, der Rausch setzt ein, betrunken nicht vom Schnaps, sondern vom strahlenden Glück des Augenblicks.
Beitragsbild von links nach rechts: Philipp Spohrer, Axel Seyboth, Felix Seyboth, Marius Spohrer; NEEVE (c) Tobias Ade