09. August 2019 – Der Regen kündigt an, dass heute kein guter Tag werden wird. An die zwei Stunden Zug- und Bummelbusfahrt ins Nirgendwo – zum Lichtblick des Tages, nach Tossens auf das „Andy ist auf einem Tennisturnier“ Festival. Die Bedeutung des Namens liegt nahe – jedes Jahr fährt besagter Andy auf ein Tennisturnier, während in seiner Bude die „Party des Jahres“ steigt. Headliner des heutigen Tages sind Blackout Problems, ansonsten kriegen wir noch Mvntis, Drens und Faakmarwin zu sehen.
Komplett durchnässt, aber angekommen auf dem Zeltplatz. Irgendwie bleibt unser Zelt aber trotzdem trocken – zumindest das Nötigste. (In der Nacht regnet es trotzdem rein. Und die Nachbarn haben das Wort „Schlaf“ wahrscheinlich noch nie in ihren Bier gefluteten Mund genommen.) Beim Andys handelt es sich – liebevoll ausgedrückt – um eines der Dorffestivals, auf dem die Leute zusammen kommen, um zusammen zu saufen und in der strahlenden Sonne Klatsch und Tratsch auszutauschen. Nicht ganz, ersetzen wir den Sonnenschein durch penetranten Regen. Dass auf der einzigen Bühne noch Künstler und Bands auftreten, ist den meisten wohl eher fremd. Selbstverschuldetes Pech, sie verpassen akkurat gekleidete Musiker, rote Badehosen, Luftsprünge und pure Energie. Aber dazu später mehr.
Über den überschaubaren Zeltplatz kann man in wenigen Metern direkt zur Bühne schlendern. In dem abgetrennten Bereich befinden sich verschiedene Fress- und Krimskramsbuden. Und ein Pfeffi-Slush Stand, definitiv das Highlight. Auf der Bühne machen sich Mvntis gerade bereit, nachdem letzte Wasserpfützen vergeblich von der Bühne gewischt worden sind. Um den ganzen noch einen drauf zu setzen gehen während der Show Wasserfontänen an. Netter Versuch, Andys, aber wärmer wird es davon auch nicht…
Bei Mvntis wird dann aber doch aufgehört mit dem Zittern. Lieber wird die synthielastigen Songs durchgetanzt, gelacht, gesungen. Naja, bleiben wir realistisch – die wenigen Trunkenbolde, die sich zu der frühen Stunde vor die Bühne getraut haben, werfen sich mit dem herumliegenden Stroh ab, das den aufgeweichten Boden rutschsicher machen soll. Aber sie versuchen zumindest, sich im Takt zu der Musik zu bewegen – bis einer von ihnen der Nase lang im Stroh landet und sie die nächsten Minuten damit beschäftigt sind, sich kaputt zu lachen. Meine Aufmerksamkeit gilt aber eher den sechs jungen Männern auf der Bühne, die sich als Mvntis aus Oldenburg vorstellen und ganz in weiße Tenniskleidung gekleidet sind. „Wir waren heute shoppen!“, verkündet Sänger und Gitarrist Samir Sakallah euphorisch. Im Publikum anheizen sind sie erfolgreicher als die Wasserfontänen und bringen ein Stück der Sommerwärme zurück, die noch in der Luft hängt. Schwebende Synthesizermelodien treffen auf gedankenverlorenen Indie Pop, der mit rockigen Einflüssen verziert ist. Der Beat pulsiert bei Songs wie „One By One“ und lässt selbst die Alkis innehalten. Jedenfalls für kurze Zeit. Lebende Melodien strömen durch den Körper. Die Musik so schwebend, als würde sie auf einem Laufband tanzen. Voller elektronischer Frische.
Rote Badehosen. Weiße Shirts oder blaue Pullover. Vom Regen durchnässte Haare. Dichter Schnurrbart. Lange Socken, teils mit Pizza-Motiven. „Hallo Zeltplatz, kommt mal näher!“ Das sind Drens aus Dortmund. Egal ob gewollt oder an das Wetter angepasst – die roten Badehosen machen definitiv was her. Genauso die Musik, die nach und nach immer besser verständlich ist. Sie beschreiben ihren Stil als Indie-Surf-Punk, ein Genre, von dem ich noch nie gehört habe. Aber es passt genauso gut zu den Dortmundern wie die roten Hosen. (Sorry. Ein Anblick, den ich nie wieder vergessen werde.) Ich habe sofort dazu die Zeile „I wanna live outside, live outside of all of this“ im Kopf. Der Surf-Punk der Dortmunder erinnert mich an sorglose, laue Sommernächte weit draußen, wo man noch barfuß laufen kann, ohne auf eine Vielzahl an Scherben zu treten. An verspielte Radschläge mit zu vollem Bauch. Sich selbst nicht ernst nehmen zu müssen, während man mit einer zu großen Portion Zuckerwatte über einen wackeligen Steg balanciert. In roter Badehose, wohl gemerkt.
Das Besondere bei Drens ist neben dem Feeling dann aber auch die Live-Performance. Vor jedem Bandmitglied ist ein Mikrofon aufgebaut, in das die Badehosenträger abwechselnd verträumte Wörter nuscheln, energiegeladene Zeilen schreien oder befreiend sinnlose Textkonstrukte singen. Drens können sowohl energiegeladen, als auch ruhig, wie sie kurz darauf beweisen. „Curacao“ wird zu meinem Lieblingssommerhit. An einem Drink nippend und die Sonne genießend. Besagte könnte sich gerne blicken lassen, um der trägen Luft die richtige Power zu verleihen. Aber so lange übernehmen Drens das eben mit Leichtigkeit.
Alle vier stehen in einer Reihe, selbst das Schlagzeug findet seinen Platz in der Formation. An dem zuerst Fabian Livrée sitzt, und dann irgendwann mit Sänger, Gitarrist UND Schlagzeuger Joël Brüning tauscht. Gut, da steht Fabian nun also mit Gitarre in der Hand und Mikrofon vor dem Mund. Entweder hat die Band Bock, ihre Instrumente ständig durchzutauschen, oder sie haben einfach keinen gefunden, der sich vollkommen aufs Schlagzeugspiel fokussieren und somit seine anderen Instrumente vernachlässigen müsste. Ich tippe auf letzteres. Es hört sich aber nichtsdestotrotz treibend und leidenschaftlich an.
„Wir sind nämlich Rammstein!“, stellt die Band freudig fest, als bunt aufblitzende Lichter umhertanzen. Das stimmt offensichtlich wohl nicht so ganz, wird aber durch herzliches Gelächter aus dem Publikum in die Schublade „witzig“ gesteckt. Sympatisch können die Dortmunder. Wie sich auch kurz darauf feststellen lässt, als die ersten technischen Probleme das Set unterbrechen. Drens spielen trotzdem munter weiter, auch wenn der Sound abbricht und kurzerhand werden daraus mehrere Runden Stopptanz: „Wenn die Anlage springt, freezt ihr!“. Gesagt, getan. Das klappt tatsächlich erstaunlich gut, die wenigen Zuschauer, die es vom Regen- und Biergefluteten Zeltplatz vor die verregnete Bühne geschafft haben, haben merklich Spaß. Und es macht am Ende sogar jeder mit, womit ich ehrlicherweise nicht gerechnet haben. Und Drens scheinbar auch nicht. Loben das Publikum aber mit einem „Ihr seid die besten Stopptänzer der Welt!“
Je mehr die Umbaupause sich dem Ende zuneigt, desto voller wird die erste Reihe, was ich erstaunt zur Kenntnis nehme. Anscheinend ist die nächste Band ein Insider des Festivals, die sich wenig später als FAAKMARWIN aus Bremen entpuppt. Scheinbar haben sie jetzt ziemlich viele Jahre hintereinander sich auf dem Andys eine angenehme Hörerschaft aufgebaut – was sich bald bestätigt, als Sänger Alexander Skipka mit einem Grinsen auf den Backen „Das ist ja quasi Heimspiel“ verkündet. Von Sekunde eins ist das recht beachtliche Publikum mit voller Aufmerksamkeit bei dem Trio, singt fröhlich die Zeilen mit oder wippt einfach nur mit dem Fuß mit – aber in der Menge ist Bewegung und das macht die Show gleich um ein vielfaches besser. FAAKMARWIN machen verträumte Populärmusik, auf die Alexander gedankenverlorene Zeilen rappt, in denen er sich weit weg von der Realität denkt. Abstrakte Metaphern finden sich wieder, die den Hörer in ein unerforschtes Universum ziehen. So trägt der gerade neu veröffentlichte Song passenderweise den Titel „High wie Kometen“. Die verträumte Musik schmückt eine abwechslungsreiche Lichtshow; die Strahler bahnen sich in allen erdenklichen Farben tastend ihre Wege über die Bühne und werfen bunte Schatten in das Gesicht der Menge.
Zwischen den Songs findet Alexander immer mal wieder Zeit, um das Publikum zu unterhalten und die Lieder weiter auszuschmücken. Der Refrain von „Du bist schön“ wird begleitet von dem Ausruf „Vor allem du da!“, während er sich über die unsichtbare Barriere zwischen Bühne und Publikum lehnt und einen großen Mann euphorisch zulächelt. Im Hintergrund sprühen aus der Gitarre von Ole Janßen und dem Schlagzeug von Jannik Ost malerische Melodien und Grooves. Der Rest der Musik scheint vom Band zu kommen, da Alexander kein Instrument in der Hand hält und in seiner Rolle als Rampensau vollkommen aufgeht. Das nutzt er auch sichtbar aus, als er zu einem der nächsten Songs jemanden aus dem Zuschauerraum auf die Bühne holt, um sich auf dessen Schultern zu platzieren – „Eigentlich haben wir immer ein Brett, auf dem ich dann jetzt stehen würde.“ Tja, da müssen dieses Mal wohl die Schultern ausreichen. Was mich erleichtert aufseufzen lässt, denn ich kenne besagtes Brett zu gut. Und es biegt jedes Mal fast durch und ächzt bedrohlich. So kommt es, dass gut ein Viertel der Zuschauer es Alexander gleich tut und auf den Schultern des zweiten Viertels landet, während Taschenlampen und Arme hin und her geschwungen werden. Eine wackelige Angelegenheit, aber ein Moment, der „In Erinnerung“ bleibt.
Ihre rockige Seite packen Faakmarwin nur wenige Bruchteile später aus – „Der folgende Song heißt Bang Bang und das ist Programm“ und lässt Zuschauer und Band in einem Taumel aus Euphorie springen und die Ruhe der vorherigen Songs vergessen. Auch eine mehr oder weniger authentische Wall Of Death kriegen die Bremer mit dem merkwürdigen Bandnamen hin, die in einem kleinen Tumult aus vielen springenden und tanzenden Menschen endet. Das Lächeln verschwindet nicht aus den Gesichtern. Fehlt nur noch eine geladene Portion Konfetti, die aus dem inzwischen aufblinkenden Sternenhimmel explodiert.
Das Konfetti aus Euphorie verschwindet und macht Platz für roten Rauch, der alle Gespräche verschluckt und die Aufmerksamkeit auf die Bühne lenkt, die die Headliner des Abends – Blackout Problems – betreten. Das Rot wurde passend gewählt zu den beiden roten Aufstellern, auf denen eine weiße Rose abgebildet ist, die sich auch auf dem Cover der neusten Single „Sorry“ finden lässt. Sänger und Gitarrist Mario Radetzky stimmt die Menge mit einem „Egal wo ihr steht, macht einen Schritt vor den anderen. Kommt so nah ran wie es nur geht und lasst uns für 75 Minuten kollektiv den Verstand verlieren. Ich weiß, dass ihr das könnt.“ ein, fordert die Besucher auf, noch weiter nach vorne zu kommen. Grinst kurz, bis die Musik einsetzt und die gesprochenen Worte ersetzt werden durch die energische Aufforderung „Follow me into the gutter“, der ersten Zeile des Openers des neusten Langspielers, der den stolzen Titel „KAOS“ trägt. Der Song heißt „How Are You Doing“ und reißt die Zuschauer mit in einen Strudel aus Energie, Kontrollverlust und Tanzdrang. Naja, zumindest die eine Hälfte – die andere Hälfte sucht nach wenigen Songs Zuflucht auf dem Zeltplatz, um dort das ein oder andere Bier zu genießen. Typisch Dorffestival. Ein paar Kilometer weiter weg rennt jetzt sicherlich eine Kuhherde voller Panik durcheinander, überfordert mit der Ladung an geballter Energie, die von der Bühne schallt. So sinkt die Anzahl der vor der Bühne stehenden Menschen, während der Pegel ansteigt. Die mutigen Zurückgebliebenen genießen die in der Luft herrschende Spannung und die Musik mehr oder weniger ausgelassen. Schlagzeuger Michael Dreilich beschreibt das Set im Nachhinein als „Zeitweise schwierig, weil wir vor so wenig Leuten gespielt haben“ – und revidiert das „wenig“ im nächsten Satz wieder. Sie könnten sich glücklich schätzen, dass überhaupt Leute sie sehen wollen und müssten nun mehr im Norden spielen, um sich dort ein größeres Publikum zu erspielen. Mich würde es nicht stören.
Aber abgesehen davon hat die kleine Menge, die sich wie eine Traube an der Barrikade scharrt, trotzdem ihren Spaß. Zaghafte Moshpits gehen über in Phasen, in denen jeder nur für sich wippt, gefolgt von in die Höhe gereckten Armen und aufgerissenen Augen, die die Band mit hungrigen Blicken verfolgen. Besonders Mario hat es ihnen angetan – aber der junge Mann kann einfach nicht still stehen. Und als die Menge ihn für eine Sekunde aus den Augen verliert, ist er plötzlich auf das neben der Bühne stehende Häuschen geklettert und singt dort die Zeilen weiter. Macht das Dach zu seiner ganz eigenen Bühne. Springt schließlich runter, hat keine Angst vor dem durch den Regen noch ganz aufgeweichten Boden. Fängt sich mit beiden Händen ab und steht wenige Sekunden später wieder in voller Frische auf der Bühne. Verrückter Kerl.
Das Set nimmt weiter seinen Lauf, findet in „Limit“ seinen Höhepunkt, neigt sich während „Charles“ dem Ende zu. Bei dem Mario an einem Keyboard sitzt und gefühlsvoll die Zeilen ins Mikrofon singt. Und wenig später aus voller Kehle anfängt zu schreien, als der Song sich immer weiter aufbaut und in der Phrase „I’m not scared of the future“ endet.
Dann, das Finale. Auch eine neuere Single, „Rome“, bestehend aus Hymmen-Refrains und Ohrwurm-Melodien. Die Band will es wissen. Mario fragt grinsend in die Menge, wer noch nie stagediven war und holt schließlich eine junge Frau hoch, die zaghaft auf der Bühne steht, diese dann aber nicht so schnell wieder verlassen will. Die Münchner strecken damit imaginär den Mittelfinger aus zu dem Security, der vereinzelte Leute immer wieder daran gehindert hat, über die Barriere und auf die Bühne zu klettern. Die Frau steht immer noch auf der Bühne, als das Lied sich dem Ende zuneigt. Bis schließlich Backliner, Fotograf und Mercher (Ganz ehrlich, was kann der Typ nicht?) Paul Ambrusch ihr Nachhilfe gibt und sie Richtung Menge befördert, auf deren Händen sie wenige Sekunden später davongleitet. Geiler Typ. Der Festivaltag endet dann mit einer Ladung Obst und Keksen, die Michael uns mitbringt – der Tag war doch nicht so beschissen, wie er sich ankündigte.