Blumen im Herzen und die Gießkanne in der Hand

Die beiden Brüder Matti und Jakob Bruckner sind Bastler. Sie schnippeln Sounds aus ihrem Umfeld zusammen, fangen die Gefühle ein, die in der Luft liegen und verpacken das Ganze in einen Roadtrip, der die verschiedensten Genres von Indie-Pop bis zu Indie-Rock abklappert, ohne Mainstream zu wirken. Songs zwischen Prokrastination und Zweisamkeit – Bruckner schreiben auf ihrem Debüt-Album „Hier“ (VÖ: 26.06.2020, Sony Music Germany) über das, was unsere Generation empfindet und verstecken mitten in den mit einem euphorischen und gutmütigen Klangteppich geschmückten Zeilen gesellschaftliche Missstände.

Der Opener „Für immer hier“ nimmt direkt mit auf einen Roadtrip weit raus. Zweisamkeit, der perfekte Moment und das Gefühl, dass gerade nichts besser sein könnte. Auch, wenn Zuhause Berge voller Hausarbeiten oder über den Haufen geworfene Pläne liegen, kriegt man mitten im Nirgendwo eine kleine Pause zum Durchschnaufen geschenkt. Einen Rückzugsort und zugleich auch einen Ort zum Batterien aufladen. Ich konnte mich irgendwie nie mit diesem Sprichwort anfreunden – aber mit „Für immer hier“ auf den Ohren und dem Lieblingsmenschen im Arm fühlt es sich wahrlich so an, als würden die Batterien wieder neu geladen werden.

„Die Lichter werden Lines / Ziehn an uns vorbei / 1969 / Astronauten für die Ewigkeit / Ich grab mich bei dir ein / In deinem Fleecepullirücken / Fühl ich mich daheim / Atme aus, atme ein“

Bruckner machen Musik, die man nicht mehr missen will. Die irgendwie Wegweiser und Trostpflaster zugleich ist und immer wieder eine ordentliche Portion Mut durch die Ohren pumpt. Die vermittelt, dass die gelebte Gegenwart gut so ist und die kleine Hoffnungsschimmer auf eine grandiose Zukunft in den Himmel sprayt, wie man sie sich schon immer geträumt hat. Bruckner haben keine Weltverbesserer-Songs geschrieben – sondern viel mehr wertvolle Momentaufnahmen, die das Kleine im Leben zu schätzen wissen und dabei auch die großen Dinge versteckt hinter vielseitigen Zeilen reflektieren können.

„Ich bin gedankenfrei / Nach so langer Zeit / Werd nicht mehr gejagt / Brauch nicht wegzulaufen / Schwebe leicht“

Durch das ganze Album ziehen sich kleine Melodien wie goldene Sprenkel im Sonnenuntergang und sind so leicht wie das anerkennende Lächeln auf dem Gesicht eines Fremden, das einen den ganzen Tag schweben lässt. Die durchgängige Bassline, der Wechsel von der Gitarrenmelodie mit der Stimme von Jakob Bruckner und der kleine Backgroundchor – durch viele verschiedene Facetten wird der Sound der beiden Brüder erst besonders und „Für immer hier“ zu dem Sommerhit, zu dem man auch bei 32 °C aufwärts noch barfuß durch die sonnendurchflutete Küche tanzen kann.

Aber nicht nur mitten im Nirgendwo findet der Song statt: in der „Zuhause-Session“ zeigen Bruckner, wie gut ihr Sound in die eigenen vier Wände passt. Ganz sanft füllen die beiden Stimmen den Raum, mischen sich mit den Klangfarben der Akustikgitarren und verlieren sich in dem Rausch ihrer Liebe zur Musik. Besonders als Jakobs und Mattis Stimme sich abwechseln, wird die Atmosphäre durchtränkt von Sommergefühlen und prickelt wie das Kaktus-Eis aus dem Freibad. Bruckner zeigen, wie schön es auch Zuhause sein kann und füllen dieses Zuhause aus mit Harmonie und der Wärme eines gut gemeinten Lächelns.

„Die News nicht ansehen / Es ist eh alles schlecht / Die Welt war betrunken / Kommt nicht mit dem Kater zurecht“

An die Harmonie Zuhause schließt der Song „Nichts tun“ an. Zwischen Prokrastination und Frühlingsmüdigkeit, zwischen Pizzakartons und Videospielen bleibt nur der leere Kopf. Der Song spiegelt unsere Generation perfekt wider, die es so gewohnt ist, Termine abzusagen und im Bett liegenzubleiben, während die Lieblingsserie das hundertste Mal über den flachen Bildschirm flackert. Solange die Zimmerpflanzen langsam vor sich hin wachsen, wird der Kopf immer leerer und der Körper immer schwerer. Aber was ist denn das Problem dabei? Statt sich mit To-dos und Überstunden zu überlasten ist es auch Mal wichtig, einfach nur den ganzen Tag liegenzubleiben.

„Die Fische schwimmen gegen die Scheiben / Wir werden immer breiter und schaun dabei zu / Hier drinnen gibt es nur noch uns beide / Die Windmühlen drehen sich weiter / Wir können nichts tun“

In diesem Song spielen die E-Gitarren miteinander, werfen immer wieder verträumte Klänge ein und werden untermauert von einem leichten Synthesizer-Teppich, der frischen Wind durch das offene Fenster wehen lässt. Die Pflanzen auf der Fensterbank flattern verheißungsvoll und irgendwo zanken sich zwei Katzen. Wenn einen dann der innere Schweinehund doch verlassen hat, macht man sich vielleicht angetrieben von dem warmen Sound auf den Weg nach draußen, bewaffnet mit einer Schüssel frisch gepflückter Erdbeeren und der strahlenden Sonne im Rücken. Erst weit hinter den Bäumen bilden sich die ersten Wolken, die dem ozeanblauen Himmel Struktur verleihen, während das lange Gras die Zehenspitzen kitzelt.

„Nichts tun“ ist zudem ein Song, der gegen den Druck unserer Leistungsgesellschaft entschleunigt, in der zwei Stunden Faulheit im Lebenslauf schon fatal sind. Aber auch ein Song gegen eine Gesellschaft, in der jede Entscheidung wichtig ist und sich stets zwischen gut und böse und zwischen ja und nein entschieden werden muss. Bruckner hinterfragen, ob es wirklich immer richtig und falsch gibt – in vielen Situationen reicht es auch einfach, auf das eigene Bauchgefühl zu hören und intuitiv zu handeln.

An die Momente der Prokrastination schließt sich „Never change“ an, in dem englische und deutsche Lyrics gekonnt ineinander verschmelzen. Für mich geht der Song um Schicksal – wieder versteckt hinter verpeilten Zeilen und einem Refrain, der sich anfühlt wie das kurze Zusammentrommeln der Mannschaft vor einem wichtigen Turnier und sich in dem Siegestaumel nach einem 5:1 und den Schmetterlingen im Bauch vor Euphorie entlädt. Weiter erinnert der Song an die Lieblingspizza auf leeren Magen, das sanfte Landen des Körpers im weichen Gras und das Wissen, dass die andere Person auch noch da sein wird, wenn man kurz die Augen schließt. Dass sie auch noch da sein wird, trotz all den Fehlern, die man gemacht hat, trotz all den Fettnäpfchen, in die man getreten ist und trotz all den Momenten, in denen Aufgeben viel leichter fiel, als weiterzumachen.

„Never change a winning team / Wär‘ viel zu früh vom Platz zu gehen / Es stand schon schlechter und wir haben’s gedreht / Never change / Wir brauchen uns nicht ändern“

Das schlichte und laute Gitarrenriff prägt den Song, mischt sich mit verspielten Synthesizerklängen und dem Gefühl von Frühling, der auf der Haut kribbelt und die Gedanken in eine hoffnungsvolle Richtung lenkt.

Kennt ihr diesen Geruch, wenn es gerade aufgehört hat zu regnen, das luftige Shirt langsam anfängt zu trocken und die Sonne wieder hinter den dunklen Wolken hervorkommt? Genauso fühlt sich dieser Song an. Denn trotz der schlechten Gefühle und den kräftezehrenden Gewissensbissen scheint nach jedem Streit in der Beziehung (die aus meiner Sicht auch nicht unbedingt als Liebesbeziehung verstanden werden muss) aus „Never change“ immer wieder die Sonne und flickt die beiden laut pochenden Herzen wieder zusammen.

„Du hast mir das nie wirklich übel genommen / Doch bist du oft genug an deine Grenzen gekommen / Es gibt genug Themen, wo wir uns nicht einig sind / Doch wissen, wenn wir drüber reden kriegen wir es hin“

Es zeigt sich einmal mehr, dass Bruckner nicht nur zwei Pop-Musiker sind, die über ihre Gefühle reden. Die Harmonie zwischen den beiden Brüdern spielt auch in der Musik eine große Rolle, wenn die beiden sich gegenseitig ergänzen und ermutigen, ihre ganze Seele auf Vinyl zu pressen.

Diese Ehrlichkeit findet man im nächsten Song „Josephine“ wieder, der sich mit dem Klimawandel und mit Fernbeziehungen beschäftigt. Das lyrische Ich hat seine Fehler einsehen können – aber erst, als die Beziehung vorbei war und der Regen aufgehört hat. Trotzdem gibt es in dem Song eine bemerkenswerte Wendung, als das Ich sich dazu entscheidet, sich zu verändern. Nicht für Josephine, nicht weil es ihm jemand beigebracht hat, sondern für die Umwelt und für eine lebenswerte Zukunft. Eine Einsicht, die der Song versucht zu vermitteln und die jeder bekommen sollte, der über die CO2-Steuer und Fridays For Future schimpft, weil „die Schüler ja nur einen Grund brauchen, um die Schule zu schwänzen“.

Und letztendlich ist das lyrische Ich dazu bereit, seinen Egoismus weit hinten auf dem Dachboden zu verstauen, mit dem Fahrrad zu Josephine zu fahren und die Vergangenheit hinter sich zu lassen – um zu zeigen, dass nicht nur die Worte entscheidend sind, sondern auch die daraus resultierenden Taten.

Begleitet wird die Kombination aus unschuldiger Liebeserklärung und gesellschaftspolitischer Kritik durch sanft gegriffene Gitarrenakkorde, die ergänzt werden von den beiden Stimmen von Matti und Jakob und von einem raschelnden Schlagzeug. Diese Atmosphäre passt zu einem Song, dessen Fokus auf der Message liegt. Der schließlich aber zum Refrain hin immer ausgelassener durch fröhliche Ausrufe begleitet wird und so auch den Bruckner-Sommer-Vibe verkörpert.

„Josephine“ erscheint in einer Zeit, in der es immer wichtiger wird, aktiv Stellung zu beziehen für eine Generation, die noch alles vor sich hat, aber auch möglicherweise die letzte sein wird, die etwas ändern kann. Darauf wollen Bruckner aktiv aufmerksam machen – auf Spotify erscheint anstelle eines Promotionvideos während allen Songs der Aufruf, über das Profil der beiden Brüder für Geflüchtete an den EU-Außengrenzen zu spenden. Mit dem Social Sofa Festival, das nun das dritte Mal in diverse Wohnzimmer der Republik und darüber hinaus digital einziehen kann, sammeln die beiden mit vielen anderen Künstlern wie KLAN, Antje Schomaker und Mine für #leavenoonebehind Spenden.

„Und jetzt ärger‘ ich mich sehr / Ich hätt‘ gern mehr auf dich gehört / Ich war ziemlich gut darin, nicht zu merken / Wie sehr du mir irgendwann fehlen wirst / Oh Josephine“

Während „Josephine“ auch um das große Ganze geht, beschränkt sich „Regenmacher“ auf Kleinigkeiten. Es geht um die Hürden, die jeder einzelne Tag mit sich bringt, um die Verlockung, den ganzen Tag im Bett zu bleiben und um die Personen, die dabei helfen, den Alltag zu überstehen. Die helfen, wenn sich die dunklen Wolken im eigenen Kopf zusammenbrauen und Wunden anfangen, wieder aufzureißen.

Ganz minimalistisch beginnt der Song mit einem Schlagzeugpattern, das durch gewohnt leichte Melodien ergänzt ist. „Regenmacher“ beschreibt verschiedene Situationen, in denen Probleme auftauchen, die die gute Laune verschlingen wollen, wenn ungeahnte Schwierigkeiten den Weg verstellen oder wenn einfach nichts so läuft, wie es eigentlich soll.

„Jeder Tag ist ein Knoten / Ich sitz oft stundenlang dran / Versuch stur ihn aufzukriegen / Damit mein Leben endlich losgehen kann / Sie ist ein Kind mit einer Schere / Und sie ist immer gut gelaunt / Hab sie bis heute nicht verstanden / Und wenn sie einen Knoten sieht, dann schneidet sie ihn auf“

Doch mit jemandem an seiner Seite fühlt man sich dann plötzlich gar nicht mehr so alleine und hilflos. Bruckner beschreiben diesen jemand als ein Kind mit guten Worten, das die Probleme in Luft auflösen und alles Negative vergessen lässt. Jemand mit unschuldigen Augen und einem strahlenden Lächeln, der immer eine Tafel Schokolade aus irgendeiner Tasche hervorzaubert und mit einer wärmenden Umarmung vor dem Rest der Welt abschirmt. Der viel zu große Gummistiefel trägt und der dir aus Kräutern einen Gute-Besserungs-Tee zusammenmixt.

Ein Song, der ermutigen und neue Kraft schenken will. Egal, wie viele Knoten der Tag hat, am Ende zahlt sich doch alles aus und aus jedem gelösten Knoten konnte neue Kraft, eine neue Idee und neue Erinnerungen gewonnen werden. In diesem Song finde ich den C-Teil besonders schön, der wie in den anderen Songs mit extra Einwürfen in seiner Aussage ganz schlicht ist, aber dabei trotzdem einen kleinen Ruhepol bietet, in dem man sich erholen und durchschnaufen kann.

Mit der Ruhe und Harmonie hört es auf in „Weit weg“, einer der wenigen Single-Auskoppelungen und der einzige Song, in dem die beiden mit Autotune experimentieren und Jakobs Stimme tatsächlich ziemlich weit weg wirkt. Aber auch da finden sich wieder markante Gitarrenmelodien zwischen der verzerrten Stimme.

Und hier ist wieder das, was mich so sehr an den Bruckner Songs fasziniert. Jedes Wort scheint sorgsam ausgewählt und auf der Goldwaage abgewogen, um die Geschichten von kleinen Momenten und großen Bewegungen zu erzählen. Dabei spielen immer wieder Farben und diverse Metaphern eine bedeutsame Rolle, um die Stimmung zu festigen. Dieser Song erinnert an die paar Stunden, in denen der nächste Tag anbricht und sich kühler Nebel über die dunklen Wiesen legt. Und die Person neben einem das alles gar nicht mehr so gruselig macht.

„Die Sonne geht auf / Wir sind immer noch blau / weiße Lügen geschluckt / Rosa Brillen noch auf“

Hände ineinander verschränkt, Gedanken liegen in den hellen Wolken – aber hier heißt es irgendwann dann auch Abschied nehmen. Ein Abschied, der immer weiter hinausgezögert werden will, aber letztendlich doch mahnend an die Tür klopft.

Die traurige Realität ist eben, dass die Welt doch nicht stehen bleibt und sich auch immer weiter drehen wird. Dass dieser Abschied vielleicht der letzte ist, vermitteln die melancholischen Klavierklänge, die ich irgendwann im Refrain finde.

Aber wie „Never change“ gezeigt hat – vielleicht ist das Schicksal. Vielleicht soll der räumliche Abschied auch das Entfernen der beiden Seelen voneinander verdeutlichen. Den langsamen Prozess, indem man realisiert, dass es vielleicht nie für immer bestimmt war – dass für immer doch eine Ewigkeit zu lang war und es jetzt eine Ewigkeit dauern wird, um zu lernen, wie man loslässt.

„Und ich halt dich noch fest / Doch du bist schon weit weit weg / Hab‘ jede Wette verloren / Du hast nicht auf uns gesetzt / Du bist weit weit weg“

Dass man lernen muss, dass der Regen im Kopf auch schon mit der eigenen Vorstellungskraft einen Regenbogen erschaffen kann, dass die Blumen im Herzen auch ohne eine fremde Gießkanne wachsen. Der einzige Song über Trennung auf der Platte macht trotzdem doch irgendwo Mut, sich aus dem Bett zu quälen und mit der eigenen Realität zu beschäftigen, ohne sich dabei auf eine andere Person verlassen zu müssen. Dabei finde ich, dass die Version ohne Autotune wesentlich gefühlsechter ist – aber eben eher viel zu nah, um weit weg zu sein.

Als ich den Song „Elefanten“ das erste Mal gehört hatte, wusste ich nicht so recht, wohin mit mir. Ich hatte zuerst das groteske Bild eines Elefanten im Kopf, der da tatsächlich auf einmal im Raum steht – nur um mich dann daran zu erinnern, dass die beiden Brüder auch in den anderen Songs schon gerne mit Metaphern gespielt haben.

Inzwischen glaube ich viel mehr, dass es sich bei den hier dargestellten Elefanten um das Sprichwort eines Elefantengedächtnisses handelt, das besagt, dass man sich insbesondere negative Erlebnisse gut und lange merken kann.

Mit der Zeile „Komm lass unsere Elefanten ziehen“ will man eine unschöne Vergangenheit hinter sich lassen, die immer wieder alte Wunden aufreißt. Mit der Vergangenheit im Hinterkopf hat man es zwar geschafft, zu wachsen und aus den Fehlern zu lernen – aber trotzdem ist sie immer noch da und kratzt mit einem schlechten Gewissen an den schönen Momenten.

Die Dissonanzen im Klavier erinnern daran, dass auch die dunkelsten Gedanken immer wieder in den hellsten Momenten herumwandern werden. Dass einen die Vergangenheit auch in solchen Momenten immer wieder einholt. Aber können wir das wirklich wollen? Für immer und ewig dem Gestern hinterherschauen, immer wieder einen dunklen Schatten hinter uns behalten und ständig das Gefühl haben, alles nur falsch zu machen? Bruckner sagen: nein, das wollen wir nicht – und verpacken dieses Gefühl gleich in einen lauten und stimmungsvollen Refrain.

„Ich bin ein Idiot und es tut mir leid / Ich schließe zu oft von mir auf dich / Vergesse immer wieder wie sehr dich die Sache trifft / Doch ich verstehe es, das war ein Schritt zu weit / Ich bin ein Idiot und es tut mir leid“

Auch in „Weit weg“ hat uns das Lernen, wie man loslässt bereits begleitet und wird hier umgedeutet in die Richtung, dass wir lernen müssen, auch die Vergangenheit loszulassen und die Zukunft zuzulassen. Offen für Neues sein, unschöne Erinnerungen mit schönen überschreiben und die verstaubte Kiste mit den negativen Gefühlen ein für alle Mal verbrennen.

Weiter geht es mit meinem Lieblingssong von der Platte, „Hätt ich’s gewusst“, der mich mit den perfekt aneinander gereimten Zeilen, seinem dynamischen Rhythmus und der Kraft in Jakobs Stimme durch ganze Galaxien tanzen lässt. Auch richtig gut – am Ende wird die langsame und leise Melodie, mit der das Lied beginnt, kräftiger und verspielter fortgesetzt.

Wieder einmal wird bewusst, wie durchdacht das ganze Album ist und wie viel Konzept in jedem einzelnen Song steckt. Dieser hier erzählt wieder eine kleine Geschichte, der ein ganzer Lebensabschnitt zugrunde gelegt wird. Das Setting auf einer x-beliebigen Party, der Kopf bei einer Person, die auf einmal wieder nach Jahren im Leben auftaucht.

Der Mix aus verschiedenen Genres, zwischen laut und leise, euphorisch und wehleidig gelingt Bruckner spürbar auf einem Album, das nach den Single-Auskoppelungen, die eher die leise Indie-Pop Facette der beiden aufzeigten, mit diesem gut durchdachten Mix überrascht.

„Wir reden viel und unsere Egos fliegen hoch / Nach einem harten Jahr habe ich mich endlich erholt / Habe mir und dieser Anna gerade einen neuen Drink geholt / Ich sehe dein Shirt und spiele Bruchpilot“

Vielleicht ist dieser Song die Fortsetzung zu dem Bruckner Song „Ein Jahr“, der 2018 erschienen ist und in dem Jakob über einen schmerzhaften Abschied singt, aber darauf hofft, dass in einem Jahr das Wiedersehen der beiden Personen gefeiert werden kann. Bleibt jedem selber offen, wie die Songs miteinander in Zusammenhang stehen – für mich zeigt das aber einmal mehr die Ehrlichkeit, mit der die beiden wirklich ihre Geschichten erzählen und ihre Gefühle verarbeiten wollen.

Aber in dieser Geschichte ist das Wiedersehen ungeplant und vollkommen unerwartet, bringt aus der Fassung und lässt das lyrische Ich über seine eigene Überraschung stolpern. Passend dazu wird der Rhythmus immer energischer, drängt sich immer weiter nach vorn und würde am liebsten aus dem Lied ausbrechen.

Der Groove entführt an leere Sandstrände, an denen man viel zu schnell auf dem klapprigen, geliehenen Mountainbike vorbeidüst. Ohne Ziel und mit dem Fahrtwind in den Ohren öffnet sich der Mund zu einem lautlosen Schrei, in dem die Gefühle der letzten Wochen übereinander purzeln und sich endlich Freiraum schaffen wollen.

Der nächste Song trägt den Titel „Ich und deine Freunde“, wurde bereits 2019 veröffentlicht und ist mir persönlich ein bisschen zu schnell. Denn während der Refrain in der typischen Bruckner-Manier ziemlich laid back und entzerrt ist, rennen die Strophen nur so weg. Die schnellen Melodien können dieses Gefühl aber teils wieder herausholen, genauso wie das fordernde Drumming.

Zum Glück für mich haben Bruckner zu diesem Song auch eine „Nirgendwo-Session“ veröffentlicht, in der alles perfekt getimt und trotzdem wie eine spontane Momentaufnahme aufgenommen erscheint. Mit nur einer Gitarre im Arm, halb leeren Bierflaschen auf dem Tisch und der Zahnbürste im Mund zeigen die Musiker diese entspannte und harmonische Stimmung, die perfekt zum Song groovt. Ja, auch wenn die Freunde komplett andere Ideale vertreten als man selbst, bleiben Bruckner optimistisch und verdrängen die abschätzigen Blicke mit einem sanften Lächeln.

Aber auch hier erschaffen Bruckner eine Atmosphäre, die realitätsnah gut in das Album passt. Wieder ist der Mittelpunkt eine Party, auf der das Sprichwort „Gegensätze ziehen sich an“ wahrlich zum Ausdruck gebracht wird. Denn während das lyrische Ich euphorisch und mit dem Herzen auf der Zunge mit offenen Armen durch die Welt rennt, scheinen die Freunde des Partners spießig, wohlbehütet und materialistisch.

In dem dazugehörigen Musikvideo liegen Matti und Jakob untätig überall da herum, wo sie gerade stören. Werden abgeschossen, aus dem Weg gedrängt und beschimpft, lassen sich davon aber nicht aus der Ruhe bringen – genau wie es die Stimmung der Song verkörpert.

Natürlich gibt es Menschen, mit denen man nicht zurechtkommen wird. Aber dann ist es einfach wichtig, dass man sich nicht für diese verstellt und stattdessen den eigenen Idealen treu bleibt und die Gegenwart akzeptiert. Ein Motiv, das ja auch in „Never Change“ vorkommt. Ihr merkt schon, warum das hier ein großartiges Konzeptalbum ist, oder?

Was mich auch direkt an den Titel „Hier“ denken lässt. Nach der Debüt-EP „Berg“ hat das Debüt-Album nicht nur auch vier Buchstaben, sondern gibt kleine Situationen im Hier und Jetzt wieder, die an Bedeutung gewinnen. Nicht mehr räumlich und zeitlich eingeschränkt kann dieses Hier und Jetzt Zuhause vor dem Schallplattenspieler stattfinden, aber auch genauso gut in einer x-beliebigen Kneipe, in der es nur so nach überschüttetem Bier riecht und die Wangen des Gegenübers im Neonröhrenlicht freudig glänzen.

In „Lifestyle“ wird es mal wieder ein Stück gesellschaftskritischer. Bruckner nehmen diejenigen auf die Schippe, denen immer alles leicht fällt und die alles Geld der Welt in den Hintern geschoben bekommen. Die punkige Stimmung des Songs und das Wirrwarr von verschiedenen Klängen im Refrain, hervorgehoben durch energische Hi-Hats auf dem Schlagzeug, spielt die arrogante und überhebliche Haltung eines stereotypischen Großstadt-Hipsters an. Eines Hipsters, dem alle Türen offenstehen, der wählerisch sein kann, ohne sich Gedanken um seine Zukunft machen zu müssen und dessen Vokabular nur noch aus Denglisch besteht.

Vielleicht hinterfragen Bruckner in dem Song auch ihren eigenen Lifestyle, der zum Großteil aus fremden Autobahnen, vollen Konzerthallen und dem Verbarrikadieren im Studio besteht – auch ein Luxus, den sich nur wenige leisten können.

„Es ist ein nicer Tag in meinem Szene-Kiez / Genieß‘ die Szenerie / Baby c’est la vie“

Wie gerne man sich das Leben so leicht malen würde. Aber trotzdem tut es gut, sich seinen Privilegien bewusst zu sein. Möglicherweise ist der Song auch eine Anspielung an die Influencer auf Instagram, die teilweise wegen Nonsens eine riesige Reichweite haben, an sich aber eine falsche Art zu leben vermitteln. Nämlich die, die Bruckner in dem Song bespielen – der Lifystyle, der nur die positiven Seiten zeigt, der alle negativen Kanten und Ecken versteckt und vorspielt, dass immer alles perfekt sein muss. Der es Menschen mit Selbstzweifeln und Problemen schwer macht, sich diese sichtbar einzugestehen, weil man sich auf sozialen Netzwerken immerzu mit anderen vergleicht und nie gezeigt bekommt, wie sehr die Fassade hinter zahlreichen Filtern und dem glänzenden Outfit versteckt bröckelt.

Wie bei allen Bruckner Songs wurden die Arrangements sorgfältig von Matti zusammengebastelt, der den Soundteppich mal explodieren lässt und ihn im nächsten Song auf ein Minimum reduziert. Ihm gelingt ein Stil, der jenseits vom Deutsch-Pop stattfindet und der viele verschiedene Facetten mit in den Koffer packt und auf die Reise zum eigenen „Hier“ nimmt, dabei aus zahlreichen Genre-Konventionen ausbrechen kann und trotzdem nie störend aneckt.

Bruckner stehen die vielen verschiedenen Facetten und es scheint so, als hätten sie sich auf diesem Album endlich wirklich austoben können. Schließlich war der Sound der bisher veröffentlichten Songs nie so direkt wie beispielsweise in „Lifestyle“ und „Hätt ich’s gewusst“.

Es wirkt ein bisschen so, als würden sie nicht mehr länger nur auf dem Sprungturm stehen und sich eine hoffnungsvolle Zukunft in die Wolken zu malen; nein, die beiden Brüder haben endlich den Sprung ins kalte Nass gewagt und sind „über den Berg“.

Wie passend, dass an diesen Song über Glamour, Oberflächlichkeit und Vorspielen einer perfekten Lebensrealität „Ich klebe fest“ anschließt, der mal so gar nicht zu einem perfekten Instagram-Lifestyle passt. Auch hier wird wieder der Spirit einer Generation dargestellt, der es nicht leicht fällt, morgens aus dem Bett aufzustehen, die Zweisamkeit statt Einsamkeit sucht und die es hasst, Arzttermine zu vereinbaren.

Lyrisch zwar ähnlich wie „Nichts tun“, aber dafür minimalistischer konzipiert und ohne einen Beat, der so auch im Radio laufen könnte. Der Song ist bewusst langsam und das tut auch mal gut. Der simple Rhythmus und die umher schwebenden Melodien erzählen von Untätigkeit, während die Akkorde im Refrain wieder mehr Energie in den Song bringen.

„Kannst du beim Späti kühlen Spezi holen / Ich nehm‘ Luigi du kriegst Mario / Es gibt von gestern noch Bananenbrot / Kannst du vorbeikommen? / Kannst du vorbeikommen?“

Bemerkbar ist hier auch die positive Atmosphäre, in der der Song geschrieben worden ist. Es ist kein Song, der zum Nachdenken animieren oder der die Stimmung ruinieren soll. Die Melodien sorgen für einen Ohrwurm und das Bild, was Bruckner erzeugen, spricht von jugendlicher Unbeschwertheit und weichen Daunendecken.

Mit Lichterketten ausgeleuchtet und in dem Gefühl von Schwerelosigkeit eingepackt bleiben nur Gewissensbisse, die sich mit jeder Minute Liegenbleiben mehr intensivieren, aber schlussendlich doch nicht zum Aufstehen bewegen können.

Nach Prokrastination und vielen verschiedenen Facetten leitet „Frau Joha“ schon das Ende des Debüts ein. Nicht zu langsam und nicht zu schnell beginnt der Song typisch für das Album fast direkt mit dem Gesang. Für mich ziemlich ungewohnt, dass bei so gut wie keinem Song ein richtiges Intro den Songanfang schmückt – aber das ist wohl der Arbeitsweise der Spotify Algorithmen zu verdanken.

Schade, denn mit einem Intro könnten sich die Songs wohl noch viel mehr entfalten und an Fläche gewinnen. Das ist wohl noch das Sahnehäubchen, mit dem das Album es definitiv auf den Platz eins meiner liebsten Veröffentlichungen dieses Jahr geschafft hätte. Ohne das Intro wird der Hörer direkt in das kalte Nass geworfen, ein Effekt, den Bruckner zweifelsohne gut einsetzen.

Passend zum Abschluss handelt „Frau Joha“ von der Zukunft und von den Momenten, auf die man später zurückblickt. Und auch wenn jetzt vielleicht nicht alles gerade laufen mag und die Zukunft auf unsicheren Beinen steht – rückblickend war jedes Abenteuer es wert, sich ungeahnten Risiken auszusetzen.

Irgendwann im Leben wird es einen Moment geben, in dem warme Wolken vorbeiziehen und es einfach reicht, dass das eigene Herz noch schlägt. Ein Moment, in dem man einfach nur existieren darf und nicht gezwungen ist, immer weiter auf Profit und den perfekten Lifestyle hinarbeiten zu müssen. Ein Moment, in dem man nichts tun muss, die eigenen Elefanten vorbeiziehen sieht und der Regenmacher eine Pause einlegt. Einen Moment, in dem man angekommen ist und der sich als „Hier“ bezeichnen lässt.

Vielleicht hat Frau Joha diesen Moment schon erlebt, vielleicht ist sie aber auch diejenige, die einem diesen Moment zeigt, die einem das Herz aufsperrt und verstaubte Gefühle durchlüftet, um einen neuen Blickwinkel auf alte Dinge zu ermöglichen.

Wenn ich Frau Joha vor mir sehe, denke ich an meine gutmütige und immer freundlich lächelnde Frisörin. Die ihre Haare hochgesteckt trägt und nach unzähligen Ausbildungen endlich ihre Bestimmung gefunden hat, die mir freudestrahlend erzählt, dass man Glück studieren kann.

Die Frau, die einem nach einem Skateboardunfall wieder auf die Beine hilft, auf die Wunde pustet, sie mit einem Pflaster bedruckt mit goldenen Blumen verziert und wie aus dem nichts Erdbeerkuchen auf den Tisch zaubert. Bei Frau Joha denke ich an die Frau, aus der ich einfach nicht schlau werde, die mir aber unbewusst einen Wurzeln schlagenden Samen in die Seele gepflanzt hat, der stets daran erinnert, dass dieses eine Leben es wert ist, gelebt zu werden.

Dass dieser Moment es wert ist, gelebt zu werden – atme aus, atme ein.

Beitragsbild: Bruckner © Klickfinger & Lea Jansen & Bernhard Schinn