Die zweite EP der Band JEREMIAS trägt den Titel „alma“ (VÖ: 12.06.2020, Caroline International) und offenbart einen Einblick in die Seele der jungen Musiker aus Hannover. Zwischen funkigen Instrumentals, leiser Melancholie und tanzbaren Disco-Melodien erzählt das Quartett mit ausgereiften Harmonien und einem Sound, der geprägt ist von Dynamik und Details im minimalistischen Stil von der Liebe.
Die EP beginnt mit dem Instrumentaltrack „est. 2018“, der das Jahr der Bandgründung in sich trägt. Funkige Disco-Pop-Melodien erinnern an billige Retrospiele, in denen ein verpixelter Mario durch seine flackernde Welt springt und im Hintergrund hellblaue Wolken vorbeiziehen. Das nächste Level ist erfolgreich abgeschlossen und es mischen sich immer mehr seichte Melodien und Rhythmen in den Sound, während utopisch schöne Palmen vorbeiziehen und Mario einen kurzen Abstecher auf einer Sonnenliege macht, um Kraft zu tanken. Erfrischender als jede kühle Capri-Sonne zu sommerlichen Temperaturen. Fühlt sich an, als wäre man selbst in diese Mario-Welt hineingeworfen und würde sorgenlos auf einer der hellblauen Wolken surfen.
Der Track liefert mit seiner Attitüde einen überraschenden Einstieg in eine EP, die sonst geprägt ist von markanten Stimmen. JEREMIAS, das sind Ben Hoffmann, Oliver Sparkuhle, Jonas Hermann und Jeremias Heimbach, die sich gesucht und gefunden haben. Jetzt wagen sie neue Abenteuer und wollen auf der EP zeigen, was sie alles seit 2018 erreicht haben – und vor allem, dass sie mit ihrer Musik gewachsen sind und nicht vor Genregrenzen zurückschrecken.
Der nächste Song „schon okay“ schließt sich mit einem ähnlich funkigen Intro an; Synthie-Melodien schweben vorbei an den nun pastellfarbenen Wolken. Auf Polaroids eingefangene Momente verblassen langsam. Zur Strophe hin zieht sich die verspielte Melodie zurück, um der Stimme von Jeremias Heimbach vollen Raum zu geben. Harmonien werden in diesem Song noch sorgfältig dosiert, hier überzeugen vielmehr die federleichten Klänge und die minimalistischen Gefühle.
Zwischen bunten Wimpeln und strahlenden Laternen singt Jeremias über Zweisamkeit, fallen gelassene Hürden und über eine Liebe, für die man alles aufopfern würde. „schon okay“ ist kein klassisches Liebeslied. Vielleicht geht es hier auch um Oberflächlichkeit und Scheinwahrheiten – und man selbst steht hin- und hergerissen in einer Kluft zwischen Herz und Hirn. Zwischen dem Gefühlsdrama wirbeln die funkigen Melodien umher und reißen den Hörer mit. Wie oft versuchen wir, uns anzupassen und uns zu verändern, um es anderen recht zu machen – wie oft spielen wir den anderen und uns selbst was vor?
„Nimm, nimm, nimm von mir alles, was du brauchst / Ich meine, heute ist Black Friday, alles raus, alles für lau / Hab jede meiner Schwächen tief in meinem Schatten versteckt / Hab meinen Charakter und den Kaffee für uns beide aufgesetzt“
Teure Geschenke häufen sich, verlieren immer mehr an Wert, bis die geklauten Blumen vertrocknet sind und das Herz gebrochen ist. Der Einblick in eine intime Gefühlswelt findet sich auf der ganzen EP wieder, die passend dazu auch auf den Namen „alma“ hört – was aus dem Spanischen übersetzt „Seele“ bedeutet. JEREMIAS stellen ihre Gedanken in den Raum, verarbeiten das höchste aller Gefühle und lassen Harmonien tanzen. Gefangen im Rausch der Unbefangenheit macht „schon okay“ es leicht, sich sorglos zu den auf Hochglanz polierten Melodien zu verlieren. Auf dem Feld neben den Gedanken blühen die schönsten Sonnenblumen; Pusteblumen fliegen durch die Luft und JEREMIAS laden dazu ein, die innere Verbarrikadierung zu verlassen und die Schönheit in den kleinen Dingen zu genießen.
Aber irgendwo steht da trotzdem der Wunsch nach echter Verbundenheit, der sehnsuchtsvolle, stumme Schrei nach Zuwendung und Zweisamkeit – der in „keine liebe“ noch lauter wird. Der Song baut sich stimmungsvoll auf, wird geschmückt mit flächigen Synthies und verspielten Gitarrenmelodien. Im Refrain wechselt Jeremias in eine sehnsuchtsvollste Kopfstimme, die federleicht durch den ganzen Song getragen und von unauffälligen Akkordwechseln begleitet wird. Herz und Kopf streiten sich im Wechsel über Nähe und Distanz, über Zweisamkeit und Isolation. Und unbemerkt wächst eine Mauer zwischen den beiden Personen, schließt sich um das Herz und lässt sich nur noch mit ehrlichen Gefühlen durchbrechen.
„Keine Liebe mehr für dich, sagt mein Kopf / Doch mein Herz pocht noch / Akzeptiere nicht, rebelliere gegen mich / Sorry für den Kitsch, zu zerbrechlich, seit du weg bist“
Auch hier sprechen JEREMIAS wieder über ein greifbares Thema. Die Gratwanderung zwischen Mehr-Wollen und Zu-Viel-Geben, stets begleitet von dem Gedanken, was denn jetzt das Beste wäre ist wohl jedem irgendwo bekannt. Auch in dem Musikvideo wird die Komplexität einer Beziehung gezeigt – ob diese jetzt freundschaftlich oder aus Liebe existiert, ist jeder Interpretation selbst überlassen. Zwei junge Männer tanzen in Pfützen, lachen zusammen, bauen sich gegenseitig auf und betrinken sich mit weit aufgerissenen Augen im Rausch der Schwerelosigkeit. Aber immer wieder kommt die Kluft zwischen den beiden zum Vorschein – nie gesagte Gefühle und verwirrende Gedanken stapeln sich aufeinander, stapeln sich übereinander und drohen, sich gegenseitig zu ertränken.
An „keine liebe“ schließt mein persönlicher Lieblingssong der EP „mit mir“ an, der ganz schlicht durch sanfte Klavierakkorde und die zerbrechliche Stimme von Jeremias gestaltet wird. Die funkigen Disco-Tunes weichen und machen hier Platz für Sehnsucht und Melancholie, für ehrliche Gefühle und für all das, was man sich nur in tiefster Nacht eingestehen kann. Die Geschichte wird hier weitererzählt, das lyrische Ich hat mit seiner Einsamkeit zu kämpfen, während seine Gefühle von flächigen Klavierakkorden überspielt werden.
„Ich fühl‘ mich gerade so betäubt / Ist der Schmerz schon vorbei oder fange ich erst an zu bereu’n? / War noch nie so schlecht im alleine sein / Die Stille, sie kreischt, sie ist die einzige, die bleibt“
Autobiografisch erzählt Jeremias von seinen Berührungen mit der Liebe und macht diese für den Rest der Welt greifbar. Die Songs lassen sich perfekt auf die eigene Situation übertragen, die Distanz zwischen JEREMIAS und dem Hörer ist quasi nicht existent. Eine Atmosphäre, die zugleich freudentaumelnd, aber dann auch wieder wehleidig und überladen mit zu lauten Gedanken ist. Wie der sehnlichste Wunsch, der in der letzten Ecke des Herzens versteckt geblieben ist – und jetzt auf „alma“ zum Ausdruck kommen kann.
Immer wieder spielen JEREMIAS mit butterweichen und empfindlichen Metaphern, malen pastellfarbene Bilder und füllen den Raum aus mit jugendlichem Übermut. Und auch wenn es in dem Song um das Alleine-sein und das Zurückgelassen-Fühlen geht, schenken JEREMIAS Hoffnung. Hoffnung auf schöne Zeiten, inszeniert durch diese wunderbar schönen Halbtonschritte im Refrain und die vielversprechenden Melodien, die sich ständig weiterentwickeln und sich frei entfalten können, um sich ins Gehör zu pflanzen. Hoffnung auf schöne Zeiten, in denen man diese eine Person findet, die einem in die Augen blickt und einen wirklich sieht. In meinen Gedanken fliegt ein Schmetterling, der in den verschiedensten Farben schillert – aber hinter den schillernden Farben seine düsteren Gedanken an sich heran lässt, anstatt sich vor diesen zu fürchten.
Dieser Schmetterling macht sich im letzten Song „lass dich“ noch einmal bemerkbar – und scheint sich endgültig trennen zu wollen. Oder sich endgültig frei machen zu wollen. Zumindest endet hier eine Beziehung, die Wege gehen mit einem bitteren Beigeschmack auseinander.
„Bin harmoniebedürftig, hasse jede Dissonanz / Wir sind schief, wir sind gebrochen, das wird nie wieder ganz.“
Was mich besonders fasziniert, ist der versteckte Vergleich einer zerbrochenen Beziehung mit einer Dissonanz, die einem sonst oft in der Musiktheorie über den Weg läuft. Und auch wenn jede Dissonanz wieder in eine Harmonie aufgelöst werden kann, auch, wenn es vielleicht noch etwas zu retten gibt – das soll es wohl gewesen sein. Man hat aus der Beziehung gelernt, aber ist ohne den Partner weiter gewachsen.
Nicht nur textlich findet sich die Harmonie. Melodische Einwürfe, unauffällig schnelle Rhythmen auf der Percussion und das Spiel mit viel und wenig Klang zieht sich besonders durch diesen Song. Anders als „mit mir“ wird trotz des Abschieds wieder der unbefangene, leichte Sound gewählt. Der an beflügelte Zufahrten erinnert, die an einen noch unbekannten Ort führen werden – die Hauptsache ist, dass der Weg raus aus dem Alltag geht.
Die kleine, aber feine EP ist geprägt von unschuldigen Melodien, zu denen sich wunderbar tanzen lässt. Ein Sommer voller Möglichkeiten liegt vor der jungen Band, die Zukunft ist ungewiss und die nackten Füße ziehen sich elegant über das verlockende Parkett. „alma“ ist wahrlich ein Einblick in eine Seele, der Nähe wie auch Distanz schwer fällt und die den Ausweg in der Ästhetik der Harmonie sucht.
Beitragsbild: JEREMIAS (c) Lucio Vignolo