Emotionsüberladene Momentaufnahmen

Giant Rooks erschaffen auf ihrem Debüt-Album (VÖ: 28.08.2020 via IRRSINN Tonträger) mehr als nur Welten. Mit lautem Getöse kreieren sie einen neuen Sound, der dynamisch, aber dann doch irgendwie melancholisch ist, der mit der Tür ins Haus fällt, aber trotzdem immer weiß, an welcher Stelle welche Gefühle angebracht sind. 2015 gründen Frederik Rabe (Gesang und Gitarre), Finn Schwieters (Gitarre und Gesang), Luca Göttner (Bass und Gesang), Jonathan Wischniowski (Keyboard und Gesang) und Finn Thomas (Drums) die Band im Herzen von Hamm und öffnen mit „Rookery“ neue Türen.

„The Birth Of Worlds“ setzt ein und in mir wird es für die ersten paar Sekunden ganz still. Wie Fred den ersten Ton hält, ihn dann weiterzieht, als die ersten Klavierakkorde sich laid-back einmischen und ihn dann letztendlich loslässt, als sich der Instrumententeppich dazu legt. Ich habe lange auf diesen Sound gewartet, der Welten öffnet und dabei mit Leichtigkeit Nischen kreiert, in denen jeder Suchende fündig wird.

Drohende Streicher, leise flüsternde Background-Chöre und nach dem „we faint“ setzt mit lauten Trommelschlägen dann gefühlt ein ganzes post-modernes Orchester ein. Bricht aus, Minuten bevor Fred darüber singt, wie der Himmel durch Explosionen verziert wird, nimmt sich zurück, um seiner Stimme Platz zu machen und schwebt kurzzeitig weit über den Wolken, als die Band hohe Kopfstimmen über das Soundgerüst legt.

So muss sich Freiheit anfühlen. Frei von sämtlichen Vorschriften, die jemals für das Pop-Genre festgelegt worden sind, frei von dem Druck, den das Debüt-Album erzeugt, frei von dem kleinen Teufel im rechten Ohr. Giant Rooks haben es schon direkt mit dem ersten Song geschafft, ihre wohlverdiente Freiheit zu gewinnen. Und dabei Musik zu erschaffen, die nie wieder aus dem rechten Ohr rauswill, die bunte Gefühle im Herzen auslöst, die Hände kribbeln lässt und die auf den Armen einen feinen Schleier von Gänsehaut zeichnet. Mich beeindruckt besonders die stimmliche Range von Fred, der mit seiner Bariton-Tonlage genau die Klänge erreicht, zu denen man in einem lauten Meer aus Salzwasser untergehen will, dabei aber auch die Höhen ohne Probleme meistert.

Der Song erinnert an den wilden Ozean, der verlockend flüsternd seine Wellen vorausschickt, der aber auch bedrohlich laut vor lebensbedrohlichen Stromschnellen warnt und dabei nie das unschuldige, von der Sonne reflektierte Lächeln verliert. Und wenn die Sonne vom Ozean verschluckt wird, stechen die Streicher immer präsenter hervor und sorgen dafür, dass sie ihre letzten Strahlen nie verliert und zusammen mit dem gekonnt schnellen und lauten Drumming am nächsten Morgen wieder aus den Fängen des kühlen Wassers entkommen kann.

Ein fantastischer Opener, der einen kleinen Vorgeschmack gibt, ohne dabei zu viel verraten; der in allen Facetten mit seiner Vielschichtigkeit zu glänzen weiß und dabei gleichzeitig innere Ruhe und äußere Unruhe miteinander vereint. Der von einem Protagonisten erzählt, der droht, unterzugehen und von dem Sog der Dunkelheit übermannt zu werden. Sich dann aber doch mit wärmenden Klavierakkorden und stärkenden sowie aufbauenden Klangmustern retten kann. Dessen Geschichte nie langweilig wird – einfach, weil Giant Rooks es verstanden haben, Songs zu produzieren, die sich in keiner Sekunde gleich anhören.

Jede Sekunde passiert etwas Neues; mal setzten hier Streicher ein, mal verstummen die verzerrten Klänge und in der nächsten Sequenz stapeln sich die Background-Gesänge übereinander. Es geht in dem Album ums Aufbauen, aber auch ums Fallen lassen – wie auf dem Albumcover bestens zu sehen ist, das auf einem Trampolin aufgenommen wurde und die Bandmitglieder ohne jeglichen Boden unter den Füßen und mit nichts als den schimmernden Wolkenfiguren und dem zugezogenen blauen Himmel im Rücken zeigt.

Der nächste Song „Watershed“ trägt die Sorgen einer ganzen Generation mit sich. Einer Generation, die von Fred als politisiert begriffen wird, die sich immer lauter wehrt und das Auflösen der Grenzen fordert. Die sich in dem Song mit ihren Privilegien, Verpflichtungen und eigenen Erwartungen auseinandersetzt – und das alles vor dem Hintergrund der Klimakrise und dem dringend nötigen Aktivismus, der sich wie ein roter Faden durch das Album zieht. Auch, wenn die Band aus Hamm keine politische ist, spiegeln die Songs das Hier und Jetzt wider, drehen sich sorgenvoll in Richtung Zukunft und lassen bewusst eine konservative Vergangenheit hinter sich. „Rookery“ steht gleichermaßen für Aufbruch wie für Niederlage, für energische Riffs wie für sich im Bett verkriechen wollende Melodien.

Als erste Singleauskopplung wirkt „Watershed“ eingängiger als die anderen Songs, mit einem oft wiederholten und in kleinen Details neu ausgelegten Refrain, schwebenden Kopfstimmen, durchgängigen Beats und Synthesizerträumen, die weit weg der Schubladen schweben zu scheinen. Die keine klare Ordnung haben und vielleicht gerade deswegen in das Gerüst passen, das sich „Rookery“ nennt. Auch wenn der Song nicht so spannend aufgebaut ist wie der Track zuvor, bleibt er im Kopf sitzen und überzeugt mit verschiedenen Passagen, in denen die Stimmen der Band immer wieder auf vielfältige Art und Weise eingesetzt und übereinandergestapelt werden.

„Watershed“ überschlägt sich vor lauter Euphorie in der Melodie, weiß fast gar nicht, wohin mit dem ganzen Serotonin, ist geprägt von kleinen Momenten, die sich mit keiner Kamera der Welt einfangen lassen und gerade deshalb so wertvoll sind. Von Momenten, die sich nicht über das Handy Display abspielen, sondern wenige Zentimeter vor dem eigenen Gesicht Herzen schneller schlagen lassen.

„Tired in the morning / And tied to the screen“

Wie bei einem 1000-Teile-Puzzle wird akribisch darauf geachtet, dass alles seinen Platz hat – und man erst zufrieden ist, wenn jedes Teil sitzt. Bis das Album releasetauglich war, hat die Band aus Hamm wie verrückt gepuzzelt – letzte Feinschliffe an Details, die im Endeffekt nur dem peniblen Hörer auffallen und in freiwilliger häuslicher Quarantäne perfektioniert wurden ergeben mit großen Ideen, die seit Jahren die Luft des Proberaums ausfüllen einen Sound, den ich bei Giant Rooks das erste Mal hören darf. Der dynamisch, aber dann doch irgendwie melancholisch ist, der mit der Tür ins Haus fällt, aber trotzdem immer weiß, an welcher Stelle welche Gefühle angebracht sind.

In weiße Wolken voller Gefühle gepackt experimentiert die Band mit verschiedensten Klängen, die aber trotzdem stest im Pop-Bereich bleiben, aber durch sanfte Streicher ergänzt werden, die sich bewusst im Hintergrund halten. Auffallend werden sie erst, wenn das Album das zigste Mal auf Repeat läuft; setzten sich kunstvoll zu einem Ganzen zusammen und sorgen dafür, dass der Sound kraftvoll, gesättigt mit Lebensliebe und eindrucksvoller Tiefe klingt.

Das Album ist gespickt mit Motiven, die immer wieder auftauchen und die teils auch schon aus den vorangegangenen 3 EPs bekannt sind. In „Heat Up“ ist zum Beispiel von Delfinen die Rede, die auch auf dem Track „Slow“ der „New Estate“ EP zu finden sind. Ich mag das Motiv und es passt zu einem Song, der zwischen den Zeilen den Klimawandel thematisiert und darauf aufmerksam macht, dass dieser Prozess vorangeht, wenn wir weiter in einem verdrehten Weltbild leben, in dem sich die Sonne um uns dreht.

Der Track ist der lauteste auf dem Album. Wie dafür gemacht, um mit voller Lautstärke über die blechernen Lautsprecher einer Demonstration abgespielt zu werden, um über den Köpfen zu schweben und die Luft knistern zu lassen. Spannend hierbei ist, dass nicht nur die Thematik des Klimawandels in den Song interpretiert werden kann – während der Bass vor dem Refrain einen Abgang wagt und bei „fireflies“ zwei auffallende Akzente auf dem Schlagzeug gesetzt werden, kann es genauso gut um aufopfernde Liebe und stimmungsvolle Beziehungen gehen.

Giant Rooks haben ihren ganz eigenen Weg gefunden, ihre Probleme und Konflikte mit der Welt anzusprechen, indem sie verschachtelt zwischen den Zeilen Aussagen auf eine Leinwand sprayen, die von verschiedensten Seiten betrachtet werden kann und alles andere als transparent ist. Die die Worte, Melodien und Details in sich einsaugt und daraus eigenständig ein Kunstwerk kreiert, in dem jeder Song für sich stehen kann, aber auch unglaublich gut in dem Konzept „Album“ funktioniert.

Es geht nicht um ganze Geschichten. Momentaufnahmen. Ein Abend an einem Bergsee und zwei Menschen vor der ruhigen Kulisse. Der Himmel neigt sich langsam seinem Untergang zu, während die Wolken in ihrer Farbenfroheit explodieren und die spiegelnde Oberfläche in helles Licht tauchen. Eine blau-rot karierte Picknickdecke, zwei Körper, die sich nicht voneinander lösen können, drei Kerzen, von deren Docht weißer Wachs tropft. Eine braune Lederjacke, die zum Trocknen verlassen auf einem matt scheinenden Stein liegt. Und dann setzt der Refrain ein – „You make my soul heat up“ – und mit ihm entlädt sich die knisternde Spannung, sorgt für Adrenalinüberschüsse und das Bedürfnis, zu tanzen, egal, wo man sich gerade befindet.

Die elektrisierte Stimmung am Bergsee wird abgelöst durch „Very Soon You’ll See“, das mit seiner auffallenden Melodie heraussticht. Percussion verflechtet sich mit dem Synthesizer, der den Song in hellblaues Licht taucht. Gesprenkelt mit den verschiedenen Stimmen im Hintergrund, die davon schwimmen wollen und schließlich in der Melodie ertrinken.

Währenddessen bahnt sich Freds Stimme durch den Nebel aus leisen Gefühlen, maßt im Refrain hymnenhaft an, lässt einem kurzem Instrumental Platz und taucht nach klimpernden Tasten wieder auf – „Rain falls, slows down. I want your love“ – um sich gleich in der nächsten Sekunde in sich aufbauenden Soundteppichen zu verlieren. Gemischt mit den ganzen Fragen, die der Song sich stellt, können keine Antworten gefunden werden. Jetzt noch nicht. Vielleicht Schicksal. Karma. Oder doch Zufall.

Zumindest ist alles gerade so, dass es sich für den Moment gut anfühlt – und im nächsten vielleicht wieder völlig auf der Kippe steht. In der Ferne rauscht das Meer und auf den Lippen liegt ein salziger Geschmack, während der Track von eingängigen Beats geprägt wird. Erzählt eine Geschichte, hinter dessen Fassaden man selbst nicht blicken kann. Das Schlagzeug hört sich irgendwann wie der Shaker an, den man in der achten Klasse im Musikunterricht zugeteilt bekommen hat. Erinnert an klimpernde, vergoldete Ringe an den Fingern, die unauffällig große Geschichten erzählen. Die von einem Ausgang erzählen, aber sich nicht mehr an den Weg dahin erinnern. Gefühlsbetrunken, emotionsverloren.

Der nächste Song bahnt sich langsam an. Und ist trotzdem irgendwie direkt da. Ich kann das Instrument am Anfang nicht direkt einordnen, aber ganz entfernt erinnert es mich an Regen. Der lautstark auf die Fensterscheibe prasselt, auf das Dach trommelt, kalte Spuren hinterlässt. Ergibt auch Sinn, wenn der Song sich „Rainfalls“ nennt. Ab diesem Song – angeteasert durch „Very Soon You‘ll See“ – ändert sich die Dramaturgie des Albums. Dunkle Wolken ziehen auf, entladen sich in kalten Regenschauern, durchnässen die Haut und hinterlassen verwirrte Gefühle.

Und während die Welt sich viel zu schnell weiterdreht, sich die Leuchtreklamen der Stadt in Pfützen spiegeln und der Mond sich nicht so ganz hinter der Wolkendecke hervortraut, findet man in „Rainfalls“ einen kleinen Rückzugsort. Eine ganze Pause in einer Welt, die von Sechzehnteln diktiert wird und in der es immer größer, höher und weiter gehen muss. Freds Stimme mischt sich mit dem Chor, während die Zeile „Rain falls, slowly. I‘ve been watching it for ages now, ages now“ wiederholt wird, nicht abbricht und die Fortsetzung zu der Zeile in „Very Soon You‘ll See“ darstellt.

„Rainfalls“ wird gar nicht die Zeit gelassen, eine große Spannungskurve zu schaffen. Der Song bleibt entspannend gelassen, das Klimpern wird leiser und die Akkorde auf dem Klavier sanfter. Die Dringlichkeit, mit der die eine Zeile immer und immer wieder wiederholt wird, erschafft bunte Bilder, lässt Regentropfen kleine Wettrennen gegeneinander veranstalten und den Kopf auf die Schulter der neben einem sitzenden Person sinken.

Es ist Herbst, buntes Laub verdeckt den tristen Boden. Unter den Schuhen knirschen heruntergefallene Eicheln, während die Ohren unter einer dicken Mütze vergraben sind und auf der Hose kein Stück hellen Stoffes mehr zu sehen ist. Der Regen dringt durch die Kleidung, sorgt mit dem sanften Akkord im Synthesizer für Gänsehaut. Drinnen hingegen wird die nasse Kleidung triefend aufgehängt, der Teebeutel in der Porzellankanne der Oma drapiert und sich auf der Fensterbank gemütlich gemacht. Die Raufasertapete pikst angenehm in den Rücken, das Glas des Fensters ist erfrischend kühl und der Kopf schwer.

Giant Rooks (c) Jean F R Raclet

Schwer wiegt auch „Misinterpretations“, der mit betont leichten Melodien düstere Texte besingt. Kontrastreich singt Fred in seiner hohen Kopfstimme, die die Atmosphäre dünn durchschneidet und hier nachdenklicher wirkt als in den Songs zuvor. Die sich wiederholende Melodie auf den schwarzen und weißen Tasten hingegen sorgt schnell dafür, dass sich der Puls senkt und man sich zum Refrain hin in die sich ergebenden Klänge fallen lassen kann.

Kleine, sanfte Bewegungen mit der Fingerspitze über den sonnengebräunten Handrücken. Kleine, vorsichtige Schritte über den Laminatboden, der nach Wald riecht und das Bedürfnis zu tanzen hervorruft. Giant Rooks verschachteln diese Gefühle in Texte, die erst nach dem fünften Mal hören wirklich ankommen. Aber genau das ist die Magie dahinter. Und, dass man sie trotzdem nie ganz verstehen wird. Das soll auch gar nicht der Anspruch sein – die fünf Musiker wollen hauptsächlich Musik machen, in der sie sich selbst wohlfühlen. Die sie sich selbst kaufen würden, um sich immer und immer wieder in den schwebenden Symphonien zu verlieren. In dem ganzen kunstvoll aufgebauten Orchester, das zwischen Dynamik und Weltschmerz miteinander tanzt, streitet, gewinnt und verliert.

„Another day on earth to try / To make a sense of other lives / Don’t know why we’re heading west“

Aber hauptsächlich geht der Song um die Maske, die man vor anderen Personen aufsetzt. Um die Mauern, die man hochzieht. Um sich für andere zu verstellen, um ihren Idealen zu gefallen. Damit niemand sieht, welcher Sturm gerade wirklich im Inneren tobt und droht, die Schlacht zu gewinnen. Masken aufsetzen, Charakterzüge verstecken. Nach außen monoton und gleichgültig, während das Instrumental von „Misinterpretations“ im Kopf nicht zur Ruhe kommt und dafür sorgt, dass man sich jede Sekunde lebendig fühlt.

Ein Song, den ich textlich nicht erwartet habe – der sich aber angebahnt hatte, wenn man auf die vergangenen Veröffentlichungen schaut. Dafür gemacht, um sich fallen zu lassen – um sich einzukuscheln in warme Gedanken und weiche Bettdecken, um die Zeit für ein paar Minuten auszuschalten und um sich Hals über Kopf in neue Abenteuer zu stürzen. Oder um wie auf dem Albumcover Saltos auf dem Trampolin ausprobieren, mit der Gefahr viel zu nah an der Kante zu landen.

Das Cover passt perfekt in das Szenario von „Misinterpretations“, mit seinen wattigen Wolken, die sich hinter den fünf vom Himmel fallenden Musikern bedrohlich aufbauen. Schwerelos, für ein paar Sekunden in den Weiten des Himmels gefangen. Vielleicht sogar für diese paar Sekunden frei – von den Erwartungen der Gesellschaft, wie man nach jedem Fall aufzukommen hat, von dem Labyrinth aus Gefühlen, die nicht wissen, wohin mit sich und von dem Gefühl, mit sich selbst nicht im Reinen zu sein.

„Taking a step back in time / Throwing up thoughts / I thought were mine“

Nach dem nachdenklich-melancholichen „Misinterpretations“ löst „Silence“ mit tanzbaren Beats ab und einem Schlagzeugpattern, das an abgefeuerte Schüsse oder durchzechte Nächte erinnert. Langes Haar hängt quer im Gesicht, wird immer wieder zurück gestrichen und durch aufgeregtes, atemloses Lächeln ergänzt. Durch warme, weit aufgerissene Augen, die sich in dem Puls der Stadt fallen lassen. Hinter denen ein Feuer lodert.

Ein Feuer, das sich von Aktivismus und Wut nährt. Von unbeschreiblicher Wut, die sich auf die aktuelle Situation und der damit verbundenen Machtlosigkeit des Individuums zurückführen lässt. Der Song schreit förmlich danach, etwas verändern zu wollen – und während der Chorus hoffnungsvoll die Arme öffnet, schlagen die Strophen verzweifelt um sich und lassen nicht zu, dass wichtige Thematiken in den weiten Tiefen von Social Media verschwinden und nicht gehört werden.

Es gibt so viele Sachen, die angepackt werden müssen, für die sich dringend eingesetzt werden soll – und Giant Rooks fragen sich in „Silence“, ob ihr Handeln gut genug ist. Ob es reicht. Ob sie überhaupt die Macht und das Recht dazu haben, das Schicksal dieser Welt zu lenken. Da wäre einmal die Klimakrise, die sich bedrohlich vor dem eigenen Umweltbewusstsein aufbaut, das Rassismusproblem, das leider auch in Deutschland viel zu präsent durch die Köpfe schleicht, aber auch die ganz persönlichen, eigenen Krisen. Die vielen Kriege, in die man zieht, ohne dass es irgendjemand mitkriegt – und am Ende bleiben nur die Optionen, einen Teil von sich selbst in der Schlacht verloren oder neue Lebensweisheiten gewonnen zu haben.

„I’m gonna tame the violence / Put him to sleep some day / But before I do / I’ll be with you“

Giant Rooks (c) Nils Lucas

Ich muss es einfach noch einmal gesagt haben – ich habe mich Hals über Kopf in die Bilder verliebt, die Giant Rooks in ihren Songs malen. Die wie schon in „Heat Up“ beschrieben eine riesige Leinwand füllen, mit lauten, aggressiven Farben, aber auch mit leisen, pastellfarbenen Gefühlen, die sich nicht in den Vordergrund drängen wollen, aber trotzdem ins Auge stechen. Und mit einem kleinen weißen Fleck mittendrin, der darauf wartet, mit den eigenen Geschichten erfüllt zu werden. Quer über die Leinwand zieht sich ein Regenbogen mit allen Farben, die das Auge sehen kann, wird unterbrochen durch markante Farbtupfer, die nie ganz auf dem Beat, aber auch nie ganz daneben sind. Ein fantastisches Album – zusammengemischt durch verschiedenste Pinsel, sich bis zur Decke stapelnde Farbeimer und ein großes Kontingent an Musiktheorie.

Die Leinwand füllt sich weiter mit „What I Know Is All Quicksand“, der der vielschichtigste Song des Albums ist. Er steigt ein mit einer sanften Melodie, unter die sich eine zurückhaltende Bassline mischt und Samples, die an aufprallenden Regen und zerplatzende Glasscherben erinnern. Lässt sich kurz Platz im Intro, steigt nicht direkt ein – was ich dem Song sehr hoch anrechne zu einer Zeit, in der das Intro immer mehr an Bedeutung verliert und man meist mit einem direkten Einstieg ins kalte Wasser geschmissen wird. Der Song hier lässt noch kurz Zeit zum Durchatmen; Zeit, um die Wassertemperatur vorher zu testen und sich zu wappnen für einen Sound, der durch alle Fasern des Körpers wandert.

Ich glaube nicht an Zufall, als der Song erst nach 30 Sekunden wirklich losgeht; die Hemmschwelle, ab der der Künstler erst Geld für einen Stream bei Spotify kassieren kann. Und wie es dann losgeht! Zwei Schläge auf dem Schlagzeug, vor dem dritten setzt die Stimme von Fred ein. Aggressiv, verzweifelt, nach vorne wollend und nicht wissend, was in der Zukunft auf einen wartet. Das Szenario einer Gefangenschaft wird geschildert, die voller Power besungen wie bespielt wird. Mich packt besonders der Kontrast zwischen dem schnellen Drumming und der Stille in den Instrumenten, die Sekunden später Raum für Freds Stimme schaffen. Nicht zu vergessen die Bassline, die sich an Freds Phrasen schmiegt und dabei so kunstvoll klingt. Könnte ruhig öfter vorkommen.

Dann eine neue Sequenz, vielleicht der Pre-Chorus, in dem Klavierakkorde in den Vordergrund rücken und das Schlagzeug bedächtiger wird. Wirkt wie eine kleine Atempause, um dann in den melancholisch fließenden Chorus überzuleiten. Der mit den hohen Kopfstimmen, den zurückhaltenden Instrumenten und Klängen, die sich nach Möwenrufen am Meer anhören, wirklich an Treibsand erinnert. Es geht nicht zurück, aber auch nicht weiter nach vorne – zwischen all dem Alltagstrott und den Zukunftswünschen ist man irgendwo im Alles und Nichts, im Hier und Jetzt stecken geblieben, gefangen zwischen Social Media Sucht und politischen Hilferufen.

Aber gleichzeitig ist der Chorus im Vergleich zu den Strophen auch so ruhig – wie das Aufwachen aus einem Albtraum, der in den Strophen geschildert und gegen den mit einer ganzen Ladung Kraft und Energie gekämpft wird. Nach dem nächsten treibenden Szenario geht es dann in eine lange Passage, die den Treibsand weiterspielt und ihn ausmalt mit Instrumenten und Stimmen, die sich Zeit lassen. Die sich gediegen treiben lassen, einen Anker in der ganzen Ahnungslosigkeit bilden und sanft das Herz in eine wattige Wolke hüllen.

Noch vor der Hälfte des Songs werden die euphorischen Strophen hinter sich gelassen und schon hier wird langsam ein Outro eingeleitet, das Sterne tanzen und Wasser strahlen lässt. Der Song nimmt langsam ab, wird reduziert auf einen leicht verrauschten Gesangpart, Akustikgitarrenromantik und helle Klaviermelodien, um sich dann ganz zurückzunehmen. Ein tiefer Atemzug – und nach ein paar Herzschlägen setzt wieder die ganze Band ein. Die Klänge legen sich wie das pinke Wundpflaster von der Nachbarin gegenüber auf langsam verheilende Narben, wecken Erinnerungen und erzählen Geschichten von ihm Meer tobenden Delfinen, ohne auch nur ein Wort darüber zu verlieren.

„What I Know Is All Quicksand“ hat Potenzial – mit seinen verschiedenen Parts, dem kreativen Umgang mit Stimmen und Instrumenten und den gegensätzlichen Motiven, die den Song spannend ausgestalten. Einer dieser Songs, der zu vielschichtig für die Tanzfläche, aber genau richtig ist für 5 Minuten und 16 Sekunden, die sich nach Unendlichkeit und süßen Erdbeeren anfühlen. Unter dem funkelnden Sternenhimmel, auf einem Boot mitten auf dem Ozean oder in der Tram – den Song kann man nicht nur einfach so nebenher hören. Er ist verdammt wichtig für das Album und wie dafür gemacht, die Augen für 5 Minuten und 16 Sekunden Stille und Leben zu schließen.

Der nächste Track hat mich zunächst überrascht. Es handelt sich hier um keinen geringeren als „Wild Stare“, der auf der gleichnamigen EP der Band aus 2019 schon erschienen und seitdem der Soundtrack von Sommer und Fernweh ist. Das Rauschen des Meeres mischt sich in dem Track mit dem Knacken von Ästen unter den nackten Füßen, die im weichen Moos fast einsinken. Mit „Wild Stare“ kann man bis ans Ende der Welt fahren und noch viel weiter, kann sich Zuhause unter dem Küchentisch vor der Last des Alltags verstecken und mit bunten Hüten auf dem Kopf das Leben vergessen. Kann seine Beine vom höchsten Ast baumeln lassen, zusammen Erinnerungen schreiben und die Stimmung des Abends in einem Song zusammenfassen.

Ungewöhnlich, dass eine Band einen Song, der schon auf einer anderen Platte ist, noch mit auf die neuste packt – aber bei Giant Rooks passt das. Weil der Song die internationalen Türen geöffnet hat und Auslöser war für vieles, was danach mit der Band passierte. Die erste Show in Italien, Anfragen aus Amerika und viele Promoauftritte stapelten sich seitdem aufeinander, ließen der Band wenig Freiraum, sich Zeit zu nehmen – und doch haben sie es endlich geschafft, ein Album zu gestalten, das die Bandgeschichte stimmungsvoll zusammenfasst und viele neue Einblicke in die Zukunft gewährt. Mit Facetten anklopft, die auch nach 12 Songs nicht langweilig werden und mit einer Spielzeit von 49 Minuten, die keine Sekunde langweilig werden. Sechs Jahre hatte dieses Werk aber auch Zeit, um zu reifen – einige Melodien existieren seit Jahren in Form von Sprachnachrichten auf den Handys der Musiker.

„Head By Head“ schafft Fortsetzungen zu vorherigen Songs auf dem Album. Da wäre zum Beispiel die Phrase „My mind uses to hide / But those times are over“. Erinnert ihr euch noch an die Masken in „Misinterpretations“, an die erzwungenen Erwartungen und das Gefühl, nicht mit sich selbst im Reinen zu seinen? „Head By Head“ schafft es da raus. Schafft es, mit emotionalen Melodien und der mantraartigen Wiederholung der Phrase zu sich selbst zu stehen und sich zu akzeptieren.

Dann gibt es in dem Song noch die prägnanten zwei (und zeitweise auch drei) Schläge auf dem Schlagzeug, die noch von „What I Know Is All Quicksand“ stecken geblieben sind, in diesem Soundkonstrukt aber vollkommen anders hervorkommen. Gespickt mit der entschlossenen Stimme von Fred und schließlich mit grinsenden Bläsern, die auf einen energiegeladenen Refrain hinspielen.

Auch, wenn das Album viele hymnenhafte Refrains enthält, klingt es nicht eintönig – wahrscheinlich eben auch, weil zwischendrin Refrains auftauchen wie der in „What I Know Is All Quicksand“ und die meisten Tracks den traditionellen Songaufbau von Strophe, Chorus, Strophe und Chorus durchbrechen. Sich befreien aus dem goldenen Käfig der konventionellen Pop-Musik, stattdessen Flügel bekommen undmit lauten Herzschlägen und viel Trommelwirbel in die Nacht ausbrechen.

Gerade ist es 4:38 und ich erkläre „Head by Head“ zu meinem Lieblingssong des Albums, während ich stundenlang das Album durch meinen Handylautsprecher im Dunklen höre und versuche, Worte für dieses große Stück Kunst zu finden. Eigentlich war es sonst immer „What I Know Is All Quicksand“ – aber gerade die letzte Minute mit der Erkenntnis der Selbstakzeptanz und den durch den Wolken gleitenden Synthesizermelodien und den feinen Soundeffekten hat sich ihren Platz in meinem Herzen fest verankert.

Auch das Motiv der gefühlten Distanz trotz der Nähe – „Head by Head but far away“ – fasziniert mich. Man nimmt die Welt eben nicht nur durch die Realität, die sich direkt vor den Augen abspielt wahr – die Gefühle können am anderen Ende des Ozeans sein, auch wenn man gerade bei den Menschen ist, die einem die Welt bedeuten. Oder auf einem Konzert von Giant Rooks, bei den Paralleluniversen und der Picknickdeckenromantik, die ich letzten Monat in Dresden erleben durfte.

„I paint it big / Next I’ll shoot and squash it / I don’t know what the hell is going on / But I’m not alone / I take a deep breath / I’m moving forward / They watch my spirit bow down / And came for the show-down“

Mit einer ähnlichen Energie setzt „All We Are“ ein, der stimmungsvoll-leicht mit seinem starken Refrain schwungvoll hölzerne Türen öffnet. Hinter denen sich laute und leise Abenteuer, tiefe Atemzüge und Amateuer-Tanzkurse verstecken. Und ein Sound, der ausbrechen, die Welt entdecken und sich im Kopf festsetzen will. Und die Erinnerung daran, dass alles viel schneller vorbei sein kann, als wir glauben – und gleichzeitig die Ermahnung, jeden Moment in vollen Zügen auszukosten.

Hand in Hand, Wange an Wange, Kopf über Herz. Der Song balanciert wagemutig zwischen gedankenverlorenen Synthesizersphären und adrenalinübergeladenen Akkorden, während man ein kleines Gefühl für die Galaxie bekommt, die sich vor den aufgerissenen Augen erstreckt. Und dazwischen bahnt sich Freds Stimme mit verschiedensten Melodien ihren Weg, die bemerkenswert neu und abwechslungsreich sind. Erfrischend, unverbraucht, mit dem typischen Giant Rooks Sound verziert, aber trotzdem mit überraschenden Feinheiten versehen. Definitiv keiner dieser Songs, bei dem man das Gefühl hat, ihn schon seit Ewigkeiten zu kennen. Eher einer, den man immer wieder neu entdeckt und erst langsam immer mehr verstehen kann.

Giant Rooks (c) Anthony Molina

Der letzte und mit sieben Minuten Spielzeit auch der längste Song des Albums nennt sich „Into Your Arms“ und fühlt sich auch so an. Nach Geborgenheit, nach dem Standby Knopf im Leben – und nach zu Hause.

Fängt an mit dem Klavier, das mit viel Hall versehen ist und schließlich von Freds Stimme ergänzt wird, die von ganz unten nach ganz oben klettert. Fast in den Himmel hineinragt, im Bauch kribbelt und dabei gefühlsbetont nie den Blick auf den Boden verliert. Die Höhen wie die Tiefen erklimmt Fred meisterhaft, wird dabei begleitet von einem leichten musikalischen Gerüst, das bedacht zurückgehalten mit Akustik-Gitarren überzeugen kann anstatt mit protzigen Effekten. Vor dem Refrain Stille – ein kleiner Atemzug – und dann ein Refrain, der sich langsam anbahnt und vorsichtig Wärme schenkt. Der sich anfühlt wie eine dampfende Tasse Tee nach einem langen Tag, wie die Durchsage des Zielbahnhofes nach einer langen Fahrt, wie geöffnete Arme und kuschelige Pullis nach einer langen Zeit des Wartens.

Lyrisch werden auch hier alte Phrasen weitergesponnen wie „There is not a single face / We have to hide / What we are feels so easy“ im Vergleich zu „Head by Head“. Die in dem Song beschriebene Distanz scheint wie weggewischt, ausgetauscht durch warme Gefühle und Nähe, die das ganze Sichtfeld einnimmt. Aber trotzdem ist „Into Your Arms“ kein typisches Liebeslied. Was sich anfangs nach Frieden, innerer Ruhe und erwiderter Liebe angefühlt hat, wird mit jeder Minute durchsetzt mit Zweifeln und Sorgen. Die rosarote Brille wurde längst abgesetzt – zurück bleiben nur Hoffnung und tief im Herzen verankerte Wünsche.

„You want me to feel okay / I feel bad because I ain’t / Oh I wanna fall into your arms / Where I could hide ’til kingdom come“

Giant Rooks (c) Lydia Trappenberg

Und wieder zeigt sich die Vielschichtigkeit der Texte. Das hier ist definitiv kein Wohlfühl-Pop, auch wenn die Akustik-Gitarre das vermuten lässt. Das ist ehrlich, schmerzhaft und trotzdem noch so gefühlsecht. Zwischen Zweisamkeit und Zerrissenheit schlägt das Herz machtlos und sucht Kompromisse, rennt weg vor Entscheidungen und versteckt sich vor dem Fall ohne Fallschirm.

„We think of the rookery as the nest, the place where our music is born.“

Was hier auch neu und ungewohnt ist, ist der Einsatz von leicht überspitztem Autotune. Obwohl die Band es alles andere als nötig hätte, wird sich hier ausprobiert und eine Entscheidung getroffen, die aus dem bisherigen Giant Rooks Muster fällt und neue Türen öffnet.

„Rookery“ ist wohl erst der Anfang von etwas ganz Neuem, setzt kleine Meilensteine, während ein kleiner Spalt Sonnenlicht auf den dunklen Flur fällt. Mit diesem Album ist die Geschichte von Giant Rooks definitiv nicht vorbei, auch wenn die Wehmut aus „Into Your Arms“ sich ein wenig so anfühlt. Da wartet eine ganze Welt drauf, entdeckt und in all ihren Facetten mit offenen Augen, Ohren und Herzen bewundert zu werden – so lange, bis der ganze Flur geflutet ist mit gleißendem Sonnenlicht und musikalisch sowie textlich jede Momentaufnahme, die die junge Band prägt und bewegt, eingefangen und in die Welt freigelassen werden kann.