When Satellites exploded

Ungelesene Mails werden innerlich in den Papierkorb geschoben, als Mount Winslow auf die Bühne strömen. So atmosphärisch, so packend, so erfrischend, dass ich darin untergehen will. Ich stehe an der Brücke und springe in klares Wasser, so tief, dass meine Zehen niemals den kalten Sand berühren werden. Blubbernde Blasen strömen an mir vorbei, in meinem Kopf nur noch Platz für melancholische Akkorde und über helle Saiten gleitende filigrane Finger.

Ein neues Kapitel ist eröffnet und es trägt den Namen Mount Winslow. „Alternative Folk Rock“ beschreibt es die Facebook Biografie. Ich fühle Herbst und Frühling gleichzeitig und werde an zu heißen Tee mit leicht bitterem Nachgeschmack, aber auch an kitzelnde Sonnenstrahlen erinnert.

Die Live-Show ist so gut, dass keine Aufnahme es einfangen kann. Und ich verstehe endlich, was mich an Live-Musik so viel mehr packt als an den unzählbaren Streams, die mir Spotify im Jahresrückblick anzeigt. Wie Sänger und Pianist Piet Julius seinen rechten Fuß immer wieder leicht ausstreckt, um die hohen Töne zu kriegen. Wie seine Augenbrauen sich zusammen ziehen und seine zusammengekniffenen Augen so viel Leidenschaft ausstrahlen. Wie Henry Buttchereit seine Gitarre liebevoll hin- und herschwenkt, seine Haare durch den Raum schüttelt und die Frequenzen in sich aufnimmt. Wie alle Blicke von seinen Melodien angezogen werden. Das kann man nicht in ein kleines Handyformat quetschen. Funken sprühen unsichtbar umher, der Bauch kribbelt aufgeregt.

Ich bin verliebt. Will mich baden in den Texten, von denen ich nur gebrochene Wörter verstehe. Verzehre mich nach den Strudeln aus melancholischen Akkorden. Will mich zudecken mit Tönen, die durch sachte Berührungen tanzender Finger verursacht werden.

In mir lodert ein Feuer. Nach einer Band, die ich gerade mal seit einer Stunde kenne. Die auf ihrer Merchübersicht Free Stickers & Hugs stehen haben. Die am 10.01.2020 in der Flänzburch in Oldenburg spielen. „Wir haben mit 19 Leuten gerechnet, aber irgendwie… sind das so viel mehr.“ Ich weiß nicht, ob sich diese Musik in ein Genre stecken lässt. Hoffentlich will sie das gar nicht. Befreit sich von den golden schimmernden Fesseln der Popmusik, die ihr angelegt werden. Schwebt weiter und füllt jede Sekunde aus mit sauberen Harmonien und einer Menge Tollpatschigkeit. Verdammt, ist das süß. Die Band wirkt fast wie gerade erst aus dem Bett gestiegen, verwuschelte Haare, trockene Lippen, kuschelige, grau-weiß gestreifte Pullis. Oder auch Multitalent Simon Tubbesing an Bass, Synth und Mikrofon, der sein Lächeln nicht hinter den vor ihm aufgebauten Instrumenten und Mikrofonen verstecken kann und seine Augen immer dann schließt, wenn die Musik droht, davon zu fliegen.

Die einbrechende Dunkelheit kitzelt das müde Auge. Als würden die auf der Bühne selbst nicht realisieren, was hier gerade vor sich geht. In einer Stadt, die überfüllt und vollgestopft ist mit Kneipen und Einkaufsstraßen. Mount Winslow stehen mittendrin. Auf einer der vielen Bühnen der Selbstinszenierung.

Werden gesehen, gehört, gefühlt, sind der Mittelpunkt für diejenigen, die sich zahlreich um die Bühne und auf den gemütlichen Sofas versammelt haben. Werden ignoriert, weggeblinzelt, belächelt vom geschäftigem Treiben der Stadt, die langsam in der sich anbahnenden Nacht verschwindet. Bedeckt durch eine Decke aus abenteuerlustigen Sternen. Nur noch Dunst und Straßenlaternen bleiben übrig. Drüben vergnügen sich Studenten und Eltern in einer gefüllten Bar, leeren einen Drink nach dem anderen.

Mount Winslow hingegen halten in dem kleinen Raum die Welt an. Sie tickt nicht mehr weiter, bis die Scheiben beschlagen sind, die 70 Minuten Spielzeit zu Ende und die ungelesenen E-Mails mit voller Wucht ins Gehirn strömen, kräftiger als eine Lawine und realer als das Flackern im Bildschirm. Die junge Band hat es geschafft, den Alltag zu verdrängen. Ihn mit einem sanften Fußtritt aus den Gedanken der Fühlenden zu vertreiben.

Weil die Show sich nach Träumen anfüllt, vor allem als die vier Musiker „Burden Of Time“ anstimmen und mir den Atem rauben. Gesättigte Melodien füllen meine Atemwege, schwere Texte legen sich vorsichtig um mein Herz. Ein Bauch voller Glühwürmchen, die geschäftig umherschwirren und sich um den besten Platz nach draußen streiten. Angezogen von den warmen Wohnzimmerlichtern, die auf der Bühne aufgebaut sind. Und dazwischen immer wieder die Zeile We shall overcome, die mich an Heimat und warmen Kakao erinnert. Die sich wie Honig auf in Watte gepackte Gänsehaut legt.

Den Kopf in den Nacken gelegt, die Augen geschlossen und den trockenen Mund leicht geöffnet. Die Atmosphäre fühlt sich nach Herbst an. Nach herunterfallenden Blättern, bekritzelten, zerknitterten Papierbögen und langen Spaziergängen.

Ich will diese Musik aus dem Club zerren und mit ihr in die Nacht davonfliegen. Ich will sie in Marmeladengläser pressen und mit nach Hause nehmen. Aber den Deckel stets offen lassen und ihr dabei zusehen, wie sie langsam verflüchtigt. Und wenn sie leer ist, das Glas mit auf ein neues Konzert dieser Band nehmen und dort wieder auffüllen. Voll tanken mit tanzenden Melodien, die einen klaren Fluss malen, der in meiner Gedankenwelt hin- und herrauscht. Betrunken vom Leben.

Meine Beine werden schwer. Ich will nicht mehr stehen. Ich will tauchen und wie wild nach Luft schnappen. Will zu „Last Night All Satellites Exploded“ meinen Kopf in die Wolken stecken, Zuckerwatte inhalieren und meine Augen für immer offen lassen. Will für immer wahrnehmen, was Gefühle sind. Wie Raphael Kazulke blau gestreifte Socken über die Becken seines Schlagzeugs gelegt hat und hin und wieder konzentriert grinst, bevor er seine Hände über die verschiedenen Trommeln schweben lässt. Weil die Becken ohne die Socken zu laut wären. Ich fühle mich schwer und gleichzeitig doch so leicht; bin mir meines Körpers in vollen Zügen bewusst und will nichts mehr, als zu explodieren. Es der Stimme von Piet gleich tun und mich fallen lassen. Entkommen vor der Realität der Welt und allen Ängsten grinsend die Zunge rausstrecken. Bis meine Mundwinkel es satt haben, nach oben zu zeigen.

Beitragsbild: Lena Vollbehr