Bremen, 17. August 2019 – Bunte Wimpel und der Duft nach orientalischem Essen. Die Luft flackert von euphorischen Kinderstimmen, die durch den Rhododendrenpark toben oder sich beim Kinderschminken ein Lächeln ins Gesicht zaubern lassen. Der MOIN-Stand grinst mit roten Backen und auf den zahlreichen Sitzgelegenheiten tummeln sich sowohl alte Festivalgänger, als auch ihre zukünftigen Nachfolger. Viva Con Agua bahnt sich fahnenschwenkend den Weg durch die Menge, Sticker werden verschenkt und die Crew empfängt den neugierigen Besucher mit einem offenen Lächeln.
Das Horn To Be Wild Festival ist aber noch mehr als familiäre Stimmung und lustiges Geplänkel – ich bekomme heute Havington, Michel Ryeson, MELE, Jeremias, Antiheld und Fibel zu sehen.
Den tristen Wolken wirken träumerisch schwebende Seifenblasenmelodien entgegen, die die Besucher, die es sich auf den Paletten und Kissen gemütlich gemacht haben, mit einem warmen Gefühl ausstatten. Bunte Wimpel in verschiedenen Farben schmücken die Bühne genauso wie die umhertanzenden Lichteffekte.
Havington heilen mit sanften Stimmen und verträumten Melodien wie eine Tasse Tee an kalten und stümischen Tagen, die tief im Inneren verankerte Kälte zu vertreiben. Die gespielten und gesungenen Harmonien der Bremer Band verursachen Zuckerwattengefühle und den Eindruck, gerade ganz weit weg zu sein. Währenddessen weht der Geruch von balinesischem Essen herüber und der Park fühlt sich an wie eine andere Welt. Die aufkommenden Regentropfen prickeln auf warmer Haut.
Der nächste Künstler stellt sich vor mit einem „Mein Name ist Michel Ryeson und ich soll dafür sorgen, dass ihr in den nächsten 45 Minuten eine gute Zeit habt“ und steht alleine mit seiner Loop Station und Gitarre auf der Bühne. Ein buntes Shirt mit Blätteraufdruck zieht die Blicke der Besucher an, die Michel mit allen Mitteln versucht, für sich zu gewinnen.
„Ich sage Horn, ihr sagt Wild! Ich sage Horn und jetzt noch einmal 5mal so laut, damit meine Mama stolz ist!“
Ob mit Witz und Festivaltauglichen Animationen oder mit verrückten Dancemoves, die besonders die jungen Frauen in der ersten Reihe strahlend aufnehmen. Irgendwann schließen sich uns zwei Besucherinnen an und zusammen machen wir nach, was Michel ohne Schamgefühl vormacht. Selbst für eine kleine Hip-Hop Einlage ist sich Michel nicht zu schade und so klingen lachend freudige Ausrufe und ausgelassene Schritte auf weichem Gras durch den Park, in Szene gesetzt mit wippenden Händen und groovigen Beats.
Kontrastreicher könnte der nächste Act gar nicht sein, der sich als das Quintett um Sängerin Marlene „Mele“ Schnittenhelm entpuppt. Die Band startet mit dem Song „Monogamie“. Bei MELE nimmt man sich selbst nicht ernst; es war noch nie so einfach, so cool dazustehen wie die fünf Musiker auf der Bühne. Schamgefühl ist etwas unbekanntes, wenn es darum geht, unbefangen Witz zu performen. Mit blauem Anzug und gelbem Shirt zieht MELE die Blicke auf sich.
Es geht um Hitzefrei, laue Sommernächte, Monogamie und herausgezögerte Refrains. Wenn man genau hinschaut, erkennt man aber auch Wünsche, Sehnsüchte und Verlangen – nach mehr als dem, was MELE mit viel Ironie besingt. Aber dafür ist die gemeinsame Zeit auf dem Festival zu kurz und die Zuschauer geben sich mit den Sonnenseiten zufrieden. Die dazu animieren, die verrücktesten Dancemoves auszupacken und über den hymnischen Melodien der Keytar das Leben zu vergessen.
MELE lässt karibische Träume zu, während sie sich stolz mit ihrem Lieblingseis und einem kühlen Softdrink am glitzernden Pool denkt. Schnell sind die grauen Wolken vergessen, in Gedanken brennt die Sonne ein Herz in die Haut, wie es im Song „eisamstiel“ besungen wird. Die Zeit vergeht wie im Flug und schneller als das Eis dann schmelzen kann ist das Set vorbei. Auch Mele hat das nicht so ganz im Blick und lässt den Zuschauern die Wahl für den letzten Song. Eindeutig wird sich für „Bye Bye“ entschieden, der das Publikum mit euphorisch verspielten Melodien im Refrain abholt und mit einem letzten „Bye Bye“ stehen lässt.
Einige Sekunden später haben dann auch die letzten realisiert, dass die Show vorbei ist und die Band auch erst einmal nicht wiederkommen wird, so gefangen genommen hat die kurze Hochphase aus tanzenden Endorphinen.
Auf der Matte stehen als nächste Band Jeremias. Sanft klopfen sie an die Tür und präsentieren federleichte Musik, die hin und wieder Ausbrüche in melodischen Pop findet. Mit hochgekrempelten Hosen und schicken Shirts machen sie auf sich aufmerksam, erfüllen irgendwo ein ästhetisches Konzept und wirken trotzdem noch zu jung, um sich darüber wirklich Gedanken machen zu müssen. Besonders Sänger und Keyboarder Jeremias Heimbach scheint sich ganz in federleichten Welten zu verlieren, seine Stimme passt sich seiner Stimmung an und schwebt weit über den Platz. Wie einer dieser mit Helium aufgepumpten Luftballons, der die Last einer emotionalen Botschaft mit Leichtigkeit davon trägt und fernab der Realität unbeschwert davon schwirrt.
Die Songs brechen abrupt ab, haben kein schonendes Fade-Off und werden sofort von neuen Songs und ähnlichen Sounds abgelöst. Oliver Sparkuhle spielt seine Gitarre, als würde eine Welt davon abhängen. „Kommt näher, denn der nächste Song heißt „Inwiefern Ganz Nah“! Am Bass Ben Hoffmann, der Melodien greift, die an einem bunten Traumfänger mit vielen Federn hängen. Geschmückt durch eine erfrischende Authentizität und Harmonien, die Herzen fliegen lassen. Die Zeile
„Regen ist Konfetti, wenn du willst“
aus dem Song „Diffus“ bleibt bei mir noch lange im Kopf stecken. Für einen Song unterstützt die Melodiefraktion dann auch Jonas Herrmann am Schlagzeug durch Kuhglocken, Schellenkranz und Triangel, lässt das Publikum im Freudentaumel auflachen und von der Leidenschaft der jungen Musiker verzaubert mitwippen.
Das junge Publikum holen Jeremias vollends ab und ich werde schmunzeln, wenn ich die Jungs später am Merch belagert von jungen Mädchen wiedersehe.
Ich weiß noch genau, was ich einer Freundin auf dem Weg zum Festivalgelände über Antiheld erzählt habe – „Das ist bestimmt irgend so eine Radioband, die Teenie-Rumkreische-Pop machen und dabei mit ihrem Aussehen auf Möchtegern-Rocker machen wollen.“ – wie sehr man sich im ersten Eindruck täuschen kann, darf ich wenige Stunden später am eigenen Leib erfahren. Den Startschuss gibt „Ma petite belle“, in der mich besonders die folgende Zeile packt:
„Nimm alles mit, aber gib mir die Musik zurück.“
und irgendwie schaffen Antiheld es, das Publikum jetzt schon um ihren kleinen Finger zu wickeln. Zumindest den Großteil – der Rest bummelt lieber übers Festivalgelände und hört der Stuttgarter Band aus der Ferne zu.
Die überwiegend jungen Besucher hingegen versammeln sich dicht vor der Bühne, angezogen von der Stimme von Sänger und Gitarrist Luca Opifanti. Der sich wirklich Mühe gibt, den Rocker-Eindruck zu erfüllen – und das Klischee gleichzeitig mit Füßen zu treten; denn sein Gesicht schmückt ein blauer Schmetterling, mit dem er sich beim Kinderschminken stolz verziert hat. „Ich bin euer Blumenmädchen für heute Abend“ – begleitet durch begeisterte Ausrufe seitens des Publikums. Dem die Band wohl ein Begriff sein scheint – nicht wenige scheinen eine mehr oder weniger lange Reise für die Band auf sich genommen zu haben.
Verständlich, bei der Show, die einem förmlich ins Gesicht springt. Das Set wird schließlich eingeläutet durch die unmissverständliche Ansage von Luca: „Wir haben nur eine Stunde Zeit und ich will 120% von euch sehen! Habt ihr Bock, euch ein bisschen daneben zu benehmen?“ Denn bei einem Antiheld Konzert benehme man sich daneben.
Die ersten Regentropfen bei einem der neuen Antiheld Songs „Mach mirn Kind“ machen das daneben benehmen noch leichter – unbeirrt spielt die Band ihr Set weiter, noch ein Stück mehr grinsend als zuvor. Das verspricht ein guter Abend zu werden; denn bis auf wenige Ausnahmen bleibt das Publikum standfest, wickelt sich ein in eine Decke aus dünnen Jacken, Schals und warmer Musik.
„Mach mirn Kind“ befindet sich auf der neuen Antiheld Platte, die keinen geringeren Titel trägt als „Goldener Schuss“ und die Attitüde der Stuttgarter Band ehrlich und auf den Punkt gebracht widerspiegelt. Das Publikum erlernt den neuen Song schnell, bald tanzen auf lauten Gitarrenriffs viele Stimmen im Takt.
Wenige Minuten später verdichtet sich der anfängliche Nieselregen zu dicken Tropfen. Der Himmel weint, die Menge bebt. Kalte Tropfen verschlechtern die Sicht; dafür brennt sich umso stärker die Musik im Gehör fest. Binnen weniger Sekunden sind alle von außen durchnässt, werden von innen wieder angeheizt durch eine große Portion an Euphorie und einer geladenen, feurigen Performance seitens der Band. Kurz hält Luca inne, um seine Dankbarkeit auszudrücken.
„Es ist wunderschön, wenn Leute mitsingen und abgehen. Aber das größte Kompliment ist, wenn die Leute bleiben, obwohl die Welt untergeht!“
Die Atmosphäre, die sich trotz des strömenden Regens ihren Weg durch die Nervenbahnen frisst, haut mich komplett aus den Socken – von so viel Power sollte sich wohl jede Rockband eine Scheibe abschneiden. Luca lässt es sich nicht nehmen, auch im strömenden Regen den Schutz der sicheren Bühne zu verlassen und sich in die Menge zu stürzen. Zusammen mit Pogo-wütigen entbricht kurz darauf eine von ihm angeleitete Wall of Death, die in durchnässten Umarmungen und lachenden Mündern endet.
Das enge Zusammenspiel der Band mit dem Publikum wird auch bei dem Song „Ficken für den Weltfrieden“ deutlich. „Ich brauche 1200 Mittelfinger, wenn wir singen: „Uns ist alles scheiß egal!“ und 600 Herzchen zu „Unsere Liebe ist radikal“. Gesagt, getan – bald schon wimmelt der glänzende Platz von ausgestreckten Armen, die mal in Form von Herzen und mal von Mittelfingern über den Köpfen der Menge schweben. Befreiender als jeder Abend auf der Tanzfläche der Lieblingsdiskothek.
„Wenn die Welt untergeht, haben wir immer noch uns.“
Die Euphorie von Antiheld wird kurz darauf durch düstere Klänge der Band Fibel abgelöst. Wie in Ekstase bedienen die Musiker aus Mannheim ihre Instrumente. Selbst bei dem schlechten Wetter steht Bassist Lukas Brehm von Anfang an ohne T-Shirt da, dreht sich immer wieder um die eigene Achse, sodass das Publikum einen Blick auf das auf seinem Rücken prangende Herz werfen kann.
Seinen Bass schwenkt er von einer Seite zur anderen, läuft über die Bühne, in den Backstage und auch in den Graben. Weiß nicht wohin mit sich und den Gefühlen, die er dem Post-Wave gegenüber empfindet.
Fibel wirken wie Gift, dass sich langsam in die Adern frisst und letztendlich im Bauch doch nur ein leichtes, angespanntes Kribbeln auslöst. Die Musiker schauen mit einem leichten Grinsen befriedigt dabei zu. Ein Teppich aus Synthesizermelodien schmückt die gewollt fröhliche Melancholie so fein und doch so mächtig wie schwarzer Sternenstaub.
Am Synthesizer hält Jonas Pentzek die Band als Konstante zusammen, die sich hin und her schwankend um ihn herum bewegt. Seine Hände liegen schwer auf den Tasten, zärtlich am Mikrofon oder recken weit ausgebreitet in den schwarzen Himmel. Die Welt will weiterziehen, aber Jonas hält sie mit Leichtigkeit an. Standhaft wie ein Phönix. Seine ausgebreiteten Arme saugen die Gefühle der Menge ein, legen sich schwer auf leichte Atemzüge.