Frei sein, grenzenlos.

„Schere Zange Glück“ ist nicht schön.
Es ist schonungslos ehrlich und schmerzhaft.
Ehrlich mit den Wahrheiten, die wir uns selbst nicht eingestehen wollen.
Ehrlich mit all den Rollen, die die profitorientierte Gesellschaft festmauert, während sie ignoriert, wie der Putz des Einzelnen dabei bröckelt.
Ehrlich mit den kleinen Dingen, die wir inzwischen als alltäglich abgestempelt und aus unserem Gewissen verdrängt haben.

Erschlagene Fliegen und fehlende Menschlichkeit

Das Debütalbum der Band „Apaath“ ist ein meisterhaftes Konzeptalbum und erzählt Geschichten, die sich verworren durch die neun Songs ziehen und nicht so ganz anecken wollen. Ob es um Feinheiten oder Verallgemeinerungen geht, ums Nicht-Ins-System-Passen oder um Unzulänglichkeit und toxische Beziehungen – das Quartett aus Rügland findet für die Themen Wörter und schafft mit musikalischen Stilmitteln ausdrucksstarke Bilder.

Selbst aufgenommen und produziert konnten die Stücke sich frei entfalten, fernab von den Grenzen, die das Label „Post-Hardcore“ ihnen auferlegen könnte. Philipp Henkel, Peter Schneider, Johannes Seeger und Hannes Tischer befreien sich aus Genrefesseln und toben sich aus mit Musik, die auch gerne in andere Richtungen abdriftet.

Scheinbare Gegensätze im Albumtitel gehen Hand in Hand mit diversen Differenzen, die das Werk aufzuweisen hat und kommen am Ende trotzdem in Einklang miteinander. Sei es in der Melodieführung, in dem Spiel mit dem Rhythmus oder in der Abwechslung zwischen gesprochenen und gesungenen Zeilen, immer wieder erscheinen neue Facetten und bahnen sich ihren Weg durch das eigene Gedankengewirr.

Auch die erschlagene Fliege auf dem Albumcover trägt zum Gesamtwerk bei – und bleibt nicht nur das unverschuldete Wesen, sondern erfährt einen metaphorischen Wert. Denn ist es nicht inzwischen normal, eine Fliege zu erschlagen? Nervtötend schwirrt sie umher, unterbricht friedliche Absicht und führt zu Aggression und Ungeduld und schwupps – ist das „Vieh“ erschlagen.

Und so absurd das auch klingen mag, so sehr passt das Bild in den Kontext von „Schere Zange Glück“: heruntergeredete Bösheiten, vermeintliche Nichtigkeiten und verbissenes Schweigen entfremden und ersticken zuneigungsvolle Zwischenmenschlichkeit im Kern. Wäre zeitgleich zu dem Album eine Dokumentation gedreht worden, wäre diese wohl schwarz-weiß flimmernd. Mit viel Gewalt, Action und dann aber doch immer dem bedrückenden Gefühl von Gesellschaftsdruck und Verachtung.

„Unsere Message ist, dass wir uns wünschen, dass Menschen mehr aufeinander eingehen und sich in andere hineinversetzen. Grundsätzlich immer erst Liebe anstatt Angst und Hass gegenüber anderem oder neuem.“

Scheinwahrheiten und aufgetischte Lügen

So geht es im Opener „Otto Paetty“ um Wahrheiten, die jedes Individuum selbst aufbauen sollte. Was wahr und was falsch ist, muss schlussendlich jeder für sich entscheiden – wichtig bleibt dabei, nicht einfach zu akzeptieren. Nicht immer nur die aufgetischten Lügen hinunterzuschlucken und abzunicken, sondern sich seine ganz eigene Wahrheit zu suchen.

Apaath verdeutlichen das mit herausfordernden Zeilen, Hinterfragungen des erzogenen Weltbildes und drückenden Instrumentalparts. Das Album beginnt gleich mit prägenden Melodien und dem Ausruf „Und ob das alles hier der Wahrheit entspricht“ – eine Einleitung, die der Interpretationsgabe des Hörers vollen Raum lassen will.

Das „Ich“ tritt in einen Konflikt mit einem körperlosen „Du“, ein Motiv, das im Album immer wieder aufgegriffen wird. Die Konversation zwischen den beiden verläuft einseitig, so hinterfragt das „Ich“ ständig die eingetrichterten Ansichten beider Figuren. Besonders faszinierend inszeniert dabei Sänger Philipp, der sowohl Shouts als auch Sprechgesang meistert und somit den Kontrast der Meinungen darstellt.

Übrig bleibt dabei der innerliche Konflikt. In dem Opener sticht die Bassline klar und deutlich hervor, bildet zusammen mit dem akzentuierten, treibenden Schlagzeugspiel ein stetiges Konstrukt.

„Immer gerade aus, immer der Nase nach. Jeden bedauern, der was anderes sagt.“

Vor meinem inneren Auge entfacht ein Bild einer leeren Manege, in der durch einen leisen Windhauch Sägespäne aufgewirbelt werden. Die Zuschauer sind nach dem letzten, höflichem Applaus verschwunden und haben sich dann wieder in ihre eigene Wahrheit hinter geschlossenen Türen und Fenstern verschanzt. Der einzige, der noch da ist, ist der Direktor. Sein Gesicht ist leer, doch in seinen Augen springen wilde Löwen, flammende Tänzer und grinsende Clowns. Schwarze Krähen fliegen über ein weites Feld und auf seinem Rücken sind die Wörter Otto Paetty eingebrannt.

Der verzweifelte Ausruf „Und du immer nur nickst“ geht über in einen starken Instrumentalpart, mit lauten Gitarren, die aus dem dröhnenden Instrumententeppich herausstechen. Die Schlagzeugfills sorgen für den Bruch und schaffen Platz. Platz, damit sich der Hörer selbst Gedanken machen kann, was seine eigene Wahrheit ist.

Die Reise ist noch nicht zu Ende ist und der rote Faden zieht sich durch die ganze Platte. Der Hörer wird Zeuge von einem intensiven Zusammenspiel aus Gitarre, Bass und Schlagzeug, dass sich durch das ganze Album ziehen wird. Sie grinsen sich gegenseitig an und verstummen augenblicklich, um den nächsten Song Platz zu machen.

Masken und Motive

Die bedrückenden Klänge wechseln mit „FettArme“ in einander umtänzelnde Melodien zweier verschiedener Motive. Im Gegenspiel zwei verschiedene Seiten, die sich auch im Text angreifen und einander verhöhnen.

Dieses Mal lande ich gedanklich in einem leeren Büroraum, in dem sich zwei Kräfte miteinander messen, wovon die eine gesichtslos ist und jegliche Empathie verloren hat. Gesellschaft und Moral als Richtlinie wurden ersetzt durch den Wettstreit um Kapital und Anerkennung: „Du“ bist mir egal und ich trete dir damit direkt ins Herz.

Ungleichmäßige Schlagzeugklicks leiten den Sprechgesang ein, der mit den Zeilen „Jetzt spreche ich“ beginnt – ein kaum übersehbares Zeichen von verspotteter Dominanz und Überlegenheit. Einschlagender Narzissmus und unaufhaltsamer Egoismus machen es leicht, den Gegenüber zu erniedrigen. Masken werden sichtbar, Leistungsdruck und Gewinnmaximierung sorgen für einen bitteren Beigeschmack. Hier ist keine friedliche Atmosphäre mehr.

„Ganz egal wie laut du neben mir schreist, ganz egal, wir denken uns unseren Teil. Dein Wunsch sei mein Feind, auf Ewigkeit.“

Nach dem ersten Vers wiederholen sich die beiden zankenden Melodien aus dem Intro, lassen den Hörer kurz aufatmen und geben zu verstehen, wie durchdacht und strukturiert das Album ist. Hinter der Maske aus Geldgier und Wichtigtuerei ist das Gesicht der angesprochenen Person verschwunden, das Herz schlägt nur noch eisern in feste Ketten der Gesellschaft gelegt weiter.

„Ist das auch wirklich dein Gesicht, das mir entgegenblickt, oder nur äußerer Schein, der mir Erlösung schenkt?“

Immer wieder setzen Apaath Breaks ein, die wie stille Aufforderungen wirken. Aber auch wie laute Bitten, die in verzweifelte Schreie ausarten – kann das „Ich“ die Menschlichkeit noch zurückholen?

Die Shouts klingen verzweifelt und wiederholen bereits bekannte Phrasen aus vorherigen Versen, aber mit einer Dringlichkeit, die auf die Ohren schlägt und von dem Schlagzeug unterstützt wird, das mit lauten Schlägen den Takt angibt und unaufhörlich weiter nach vorne drischt. Die anderen Instrumente bilden in der Mitte des Songs einen unbedarften Teppich, der seicht und leise die verzweifelten Phrasen umspielt und sich dann zum Ende immer weiter aufspielt. Das Forte wird kunstvoll für einen kurzen Moment zurückgenommen, um dann in Shouts und Aussichtslosigkeit zu gipfeln – mit einem abrupten Ende. Wie ein letzter Schlag. Wie das letzte Piepen im Krankenhaus, bevor die Lichter im Kopf ausgehen und der Körper erschlafft.

„Jetzt sind alle voll mit Hass und du der mit dem Geld.“

Rosa-rote Brillen und leere Herzen

„Klingeltott“ schließt mit Schlagzeugbeats und harmlosen Akkorden an, die musikalische Reise scheint sich hier zu beruhigen. Die Betonung liegt hier aber auf dem Schein – denn der idyllischen Vorstellung der besungenen „Wir gegen den Rest“-Attitüde wird schnell Sarkasmus beigemischt, der verdeutlicht, dass der Song klare Kritik ausüben soll.

„Hallo, du bist schön und ich weiß ganz genau, dass wir zueinander gehören. Von kurzer Dauer ist das alles sicherlich – nicht.“

Genau das abgebrochene „nicht“ bringt die Kritik zum Vorschein, die hier schleichend ausgeübt wird. Und trotzdem schafft das Quartett es, das musikalische Gerüst so zu spannen, dass es die schnulzigen Zeilen zuerst nicht behindert. Besonders die Melodieführung zwischen den beiden Refrains strahlt Harmonie und Gelassenheit aus; zwei frisch verliebte Menschen liegen ausgestreckt bäuchlings auf grünem Rasen, blicken in einen fröhlich vor sich hin plätschernden Fluss und betrachten zufrieden das gespiegelte Bild, was sie zusammen abgeben; während sich durch die direkt nach den erwähnten, scheinheiligen „Wir gegen den Rest“-Phrasen mit verzweifelten Shouts ein Unwetter anbahnt.

Beim ersten Hören sieht man noch glückliche Gesichter, die sich gegenseitig in den Armen liegen, unbedarft miteinander tanzen, sich frisch verliebt auf die Lippen starren und sich unreflektiert fallen lassen in das Gefühl, verliebt zu sein. Das Gespräch fehlt, da ist nur Oberflächlichkeit. Aber mit der Zeit wird immer bewusster, dass das so nicht richtig sein kann. Die Aussage des Refrains „Wir gegen den Rest“ ist unrealistisch und wird schnell gleichgesetzt mit falschen Hoffnungen. Leere Herzen reden aneinander vorbei, gaukeln sich gegenseitig Liebeslieder vor, in deren Hauptrolle sie schon lange nicht mehr stecken und scheitern daran, den anderen wirklich zu kennen.

Die zwischenzeitlich durchschimmernde sanfte Melodie übt einen Vorwurf aus an die als einfach dargestellten Beziehungen in der Populär-Musik, die immerzu schön geredet werden und nur die guten Seiten bedenken. Ein zentraler Punkt, der sich durch das ganze Debüt hangelt – auch die schlechten, unschönen und nackten Seiten und Wahrheiten müssen betrachtet werden, so schmerzhaft sie auch sind. Apaath schaffen genau dies mit überraschend überzeugender Detailverliebtheit.

Die verschiedenen Facetten kommen auch hier wieder zum Vorschein; reflektiert der Gesang am Ende noch die Beziehung selbst als die Person, die in dieser gefangen ist. Fast gehen die Zeilen unter, so unscheinbar und schmerzhaft klingen sie:

„Dann war es auch schon aus. Wir waren viel zu jung. Wir hatten Haus und Kinder, aber alles zu früh. Voreilig, waren wir. Ich konnte nicht mehr.“

Tradition und abbrechende Äste

Im nächsten Song „Sofa“ wird das Wechselspiel zweier Melodien aus „Klingeltott“ übernommen und umgewandelt in Sprechgesang, der die Melodie immer wieder unterbricht und gleichermaßen von ihr unterbrochen wird. Abwechslung und Dynamik werden groß geschrieben, um dem Album Tiefe zu verleihen und ausdrucksstarke Geschichten zu erzählen.

„Tu nicht so, als wüsstest du um was es hier geht. Ich würde alles geben, wäre es morgen nicht zu spät.“

Das Quartett spricht auch hier in Rätseln, die sich erst nach erneutem Hören Stück für Stück erschließen und das Album so noch interessanter machen, als es eh schon ist. Der Song handelt von Tradition, die sich über Menschlichkeit stellt und verbietet, dem Einzelnen Aufmerksamkeit zu schenken. Um genau das zu verdeutlichen, spielen Apaath mal wieder mit musikalischen Mitteln, ziehen die aufgebrachte Stimmung des Songs zurück und erschaffen ein neues Szenario, in der die verachtenden Zeilen im Vordergrund stehen und den Hörer wachrütteln sollen, der sich jetzt nicht mehr in den Klängen verlieren kann.

„Schon immer der Tradition das Recht verliehen. Nie hinterfragt, nie diskutiert. Kein Gedanke an eine andere Welt. Verschließe dich und steh morgen nicht mehr auf.“

Die Phrase „Stechet auf euch ein“ wirkt wie in einem reißendem Fluss, der durch die Böschung peitscht und dem lyrischen Ich die Luft zum Atmen nimmt. Es wird von Stromschnellen erfasst, die stärker sind als seine Kraft und drohen, ihn zu ertränken. Das Wasser ist tief und reißt immer weiter mit, der Himmel ist dunkel und zieht sich bedrohlich immer weiter zu. Peitschende Schlagzeugschläge treffen auf wütende Saiten, versprühen verzweifelte Funken und sorgen für Aufruhr.

„Das Ende des Songs ist die Überspitzung der Wut darüber: Wenn sich eh schon alle hassen und sich keiner Zeit für andere Personen nimmt, sollen sie doch gleich alle aufeinander einstechen.“

Verzweifelt kann sich das Ich noch an einem Ast festhalten, der im abrupten Ende des Songs durchbricht. Doch noch ist die Reise nicht vorbei, noch wurden nicht alle Abgründe aufgedeckt.

Fehlende Mentalität und Verlust

Der Titel des nächsten Songs „31#B“ bezieht sich auf das Ferienhaus, in dem dieser geschrieben und aufgenommen worden ist. Mit einer Länge von über fünf Minuten ist er der längste im ganzen Album und wirkt wie eine Trennung zwischen der ersten und der zweiten Hälfte der Platte, für die noch einmal ordentlich Anlauf genommen wurde. Er lässt sich die Zeit, die er braucht, um sich zu entfalten und um die wohl bedrückendste Geschichte auf dem Album zu erzählen:

„31#B beschreibt die Gedanken und Gefühle einer Person, die sich mit Mobbing am Arbeitsplatz konfrontiert sieht und als einzigen Ausweg den Suizid wählt. Diese Tatsache stellt das schlimmste und doch immer häufigere Ende fehlender Empathie und Menschlichkeit dar.“

Mit diesem Song verarbeiten Apaath reale Ereignisse aus dem eigenen Bekanntenkreis, versuchen, der nackten Wahrheit ins Auge zu blicken und überspringen dafür ganz locker störende Genre-Grenzen. Schaffen Musik, die frei ist, für sich selbst spricht und trotzdem dem Hörer wichtige Aussagen in den Kopf pflanzen möchte.

Die Person, um die es in „31#B“ geht, gibt wie in den anderen Songs aus der Ich-Perspektive einen Einblick in eine chaotische Gefühlswelt, die nicht in ihre Umgebung passt. Das Ich unterscheidet sich von den anderen, kann diesen Unterschied nicht greifen und wird deshalb ausgelacht, ausgegrenzt, ausgestoßen. Wird durch die Reaktionen des Umfelds verzweifelt, verletzt und verliert schließlich den Bezug zur Welt.

Das harmlose Intro deutet in keinster Weise auf den Ausgang der Geschichte hin; zeigt auf, wie schnell und unvorsichtig inhumane Taten ihren Lauf finden. Eine kleine Nörgelei da, ein Auslachen hier – für die Außenstehenden scheint die Situation aufgrund fehlender Mentalität bis zur letzten Sekunde nicht greifbar zu sein.

„Zugeben ist peinlich, deshalb komme ich nicht zur Arbeit, Chef.“

Die ersten Zeilen werden wiederholt, ein Unwetter braut sich zusammen. Sie klingen jetzt dringlicher. Der Song baut sich langsam auf, stapelt musikalische Elemente aufeinander, die immer mehr ineinander zerfließen. Die Stille wirkt gespenstisch, die leichte und fröhliche Melodie wegen der abstrusen Thematik unpassend und der Hörer weiß nicht, wohin mit den Gedanken.

Dieses Mal legt sich der Song mehr mit dem Rhythmus an als mit den verschiedenen Melodien – niederdrückend lasten die vom Schlagzeug vorgegebenen Rhythmen auf dem Geist. Spielen mit dem Feuer von dunklen Dissonanzen und lauten Akkorden. Kontrastreich zu den Strophen, in denen die helle Melodie den Gesang umschmeichelt.

Und schneller, als man es überhaupt greifen kann, ist die Geschichte zu Ende erzählt – „Ich lasse los“ als die letzten Lebenszeichen, die das Ich von sich gibt. Leblos, monoton. Zuhause warten unaufgeräumte, kalte Zimmer. Aussichtslos. Der Küchentisch quillt über vor zerknülltem Papier und ungewaschenen Tellern, der Körper prallt auf dem dreckigen Asphaltboden ab.

Die laute Stimmung des Songs ist brutal – aber viel bedrückender ist dann das eine Minute andauernde Ende, das komplett im Kontrast zu der Gewalt steht, die das Ich in seinen Gedanken erfahren musste. Der harmlose Ausklang mit leichten Gitarrenklängen, die sich genauso in einem herkömmlichen Schnulz-Pop-Song wiederfinden könnten, hinterlässt einen mulmigen Beigeschmack.

„Arbeit, Arbeit, Arbeit – mehr ist es doch nicht.“

Was eine Avocado mit Menschlichkeit zu tun hat

Für das Album bedeutet das Ende von „31#B“ zugleich den Abschluss mit dem ersten Teil der Platte. So sind die nächsten vier Songs innerhalb einer einzigen Woche entstanden und aufgenommen worden, eingefangen in einem abgelegenen, winzigen Ferienhaus.

Demzufolge beginnt der erste Song der zweiten Hälfte „Guaca“ mit einer ganz anderen Thematik: das Schälen einer Avocado. Ja, ich habe mir damals vermutlich genau dasselbe gedacht wie du gerade bestimmt auch – warum zur Hölle eine Avocado und wie hat es der Song auf ein Album geschafft, das um Selbstmord, Verachtung und fehlende Menschlichkeit geht?

Meist aus Ländern exportiert, in denen Wassermangel und erhöhte Kriminalität herrscht, wird die Avocado hier gerne als „Super-Hipster Food“ abgetan. Oftmals geraten dabei die langen Transportwege, Waldrodung, Schadstoffe und schlechte Anbaubedingungen aufgrund der oftmals miserablen Bedingungen in den Hauptanbaugebieten in den Hintergrund – und hier ist sie oftmals nicht mehr von den Speisekarten großer Restaurants und aus dem Angebot der Supermarktketten wegzudenken. Auch hier wird deutlich, dass sich Apaath den Dingen widmen, die gerne übersehen werden, den Kleinigkeiten, die für uns keine große Rolle mehr spielen und einfach gemacht werden. Wie das Erschlagen einer Fliege auf dem Cover oder das Zerschneiden der begehrten Avocado.

Musikalisch wird diese Szenerie beschrieben durch dunkle Melodien und eine düstere Atmosphäre. Ergeben, untergeordnet, willen- und gefühllos legt sich Philipps Stimme dazu. Singt aus der Perspektive der Avocado, gibt Anweisungen und verhält sich vollkommen emotionslos gegenüber der eigenen Vernichtung.

„Ich liege da, höre deine Schritte näher – näher, näher, komm näher. Weiß es ist nun an der Zeit, dich zu nähren.“

Auf einer anderen Ebene könnte „Guaca“ auch von einer toxischen Beziehung handeln, in der die Liebe über den Haufen geworfen wurde und nur noch investiert wird. Während der Partner nur noch ausnutzt. Einen Ausweg scheint es hierbei nicht zu geben – kraftlos bleibt der Ausgenutzte liegen, lässt sich seine Lebenskraft aus dem Herzen saugen und hat Angst, etwas zu verändern.

Der Song wird angetrieben von einem stetigen Klangteppich, der nie ganz zum Erliegen kommt und dunkel um den Gesang wabert. Die „Guaca“-Ausrufe, die das Ende einleiten, klingen fordernd, aber zugleich auch ironisch und gehen unter im lauten Soundgewitter.

In dem dazu erschienenen Musikvideo präsentiert sich die Band in vier verschiedenen Szenarien, allesamt gefangen in ihrem Frame, während in einem der Szenarien die Avocado ohne wirkliche Gefühlsregung des Protagonisten aufgeschnitten und ausgequetscht wird.

Instrumentale Weite und eigene Wahrheiten

„Klettern“ wiederum kommt ganz ohne Gesang aus, weißt aber auch wieder Gegensätze auf – lauter, treibender Post-Hardcore reicht sich die Hand mit reduzierten Klängen, mit denen das Lied startet. Die langsame Melodieführung und der hallende, von Linus Gramm eingespielte Synthesizer werden begleitet durch ein immer mehr an Intensität gewinnendes Schlagzeug. Langsam steigert sich der Spannungsbogen, als die Melodie unterbrochen und nur durch einen verzerrten Bass weitergespielt wird.

Das kleine, schlichte Motiv hat sich in meinen Kopf gefressen und hat etwas bedrohliches wie auch einen beruhigenden Charakter. Vier Minuten und 18 Sekunden hat der Hörer Zeit, sich zurückzulehnen und seinen Gedanken freien Lauf zu machen, ohne dabei durch Gesang geleitet zu werden. Zeit, sich seine eigene Wahrheit zurecht zu rücken und das bisherige Album zu reflektieren.

Mich erinnert der Track an weite Landschaften, die mit einer kleinen Drohne überflogen werden. Rechts im Sichtfeld befinden sich grüne Landstriche, auf denen man ganz klein Hochsitze, kleine Lichtungen und im Wind ächzende Baumkronen sieht, während sich am linken Bildrand ein großer, blauer Fluss entlangschlängelt. Die Drohne nähert sich einem der Hochsitze an, in dem ein Förster sitzt und gemütlich rauchend Ausschau hält. Man weiß nicht wonach – und erfährt es auch nicht. Jeder soll sich seinen eigenen Teil denken. Ich sehe nur, wie er aufspringt, in seinem gebrechlichen Alter langsam die Leiter herunterklettert und dann mit einem kleinen Aufprall auf dem Boden ankommt. Ich schaue an ihm vorbei und so lange in die Ferne, bis der nächste Song anfängt und meine Augen brennen.

Monotone Floskeln und ermüdender Konflikt

Ähnlich harmonisch und beruhigend beginnt „Haare“ – bis die gesungenen Zeilen langsam in mein Gehirn dringen und mir die Thematik des Songs zu vermitteln versuchen. Wieder einmal zeigt sich, dass Apaath keine lauten Riffe, keine dominanten Gitarrensoli oder keine anspruchsvollen Shouts brauchen, um von schmerzvollen Geschichten und unschönen Begebenheiten zu erzählen. Philipp jongliert mit seinen Worten, legt mal mehr Druck in seine Stimme und lässt sie ein anderes Mal klingen wie einen sanften Hauch.

„Ich habe auch keine Lust mehr, sich Sachen an den Kopf zu werfen. Bringt glaube ich auch nichts.“

Die bedrückten und zerbrochen klingenden Zeilen werden in das Ohr geflüstert, bahnen sich langsam ihren Weg durch die Gefühlswelt und legen sich zusammen mit immer wiederkehrenden, monotonen Floskeln eiskalt ums Herz. Die Floskeln haben fast etwas roboterartiges, sorgen für mulmige Gänsehaut und scheinen weit entfernt von einem fühlenden Wesen.

Auch hier ist wieder die Rede von „Du“ und „Ich“; die beiden Personen scheinen im Konflikt zueinander zu stehen und aneinander zu zerbrechen. Die Beziehung in diesem Song ist weiter gereift als die in „Klingeltott“ – die rosarote Brille wurde abgesetzt und es ist an der Zeit, sich schmerzhafte Tatsachen einzugestehen. Apaath sehen in diesem Song einen der wichtigsten im ganzen Album:

„Für uns ist der Song besonders, weil dabei jeder in seine eigene kleine Gefühlswelt verschwindet. Die textliche Beschreibung des Endes einer Beziehung löst bei uns zeitgleich ein starkes Gefühl des Zusammenhalts innerhalb der Band aus.“

Aber nur bei der Beziehung bleibt es nicht – das wäre wohl zu einfach für Apaath. Zwei verschiedene Geister trafen aufeinander, lernten sich zu lieben und verlernten es dann schnell wieder, angetrieben von dem Erwartungsdruck der Gesellschaft und der Öffentlichkeit auf den sozialen Netzwerken. Doch auch hier musste festgestellt werden, dass Masken noch so schön sein können, wenn sie den eigentlichen Charakter verstecken – „Setz deine Maske ab und sprich mir ins Gesicht.“

Die Zeile „Keiner kommt mehr klar. Keine Zeit mehr für die wichtigen Dinge“ behandelt diese Missstände, die auch in dem ersten Vers betont werden mit einer ermüdenden Flut an Informationen. Und trotz der abwechslungsreichen Melodieführung zwischen Gesang, Gitarre und Bass vermittelt der Song Leblosigkeit, Müdigkeit und hinterlässt am Ende nur Leere.

„Denn mit dir und meiner Angst bin ich wenigstens nicht allein.“

Freiheit durch Ehrlichkeit

„Interferenzen“ schließt harmlos an. Finden Apaath im letzten Song ein friedliches Ende, einen Ausklang, mit dem jeder zufrieden ist? Die Bassline nähert sich zögerlich an, gewinnt langsam an Sicherheit und entfaltet sich schließlich in einem kurzen Instrumentalpart, ohne sich dabei irgendjemandem aufzudrängen. Leichte Dissonanzen werden vertrieben durch schwere Gefühle.

Der Song spielt mit den gleichen Phrasen, die immer wieder auftauchen und sich im Kopf festsetzen. Er könnte dauerhaft im Loop laufen und es würde nicht stören, stattdessen schleicht sich das Bild eines erholsamen Sommerabends in meinen Kopf. Träge wippt die Zitrone im Glas, die braun gebrannten Finger gleiten durch einen klaren Fluss. Die Gedanken sind ganz weit weg, erholen sich langsam wieder und kommen zur Ruhe.

Doch trotz den sich wiederholenden Zeilen lassen Apaath es sich nicht nehmen, mit diesen zu spielen – „Alles wird gut, solange du wild bist“ wandelt sich bei der zweiten Wiederholung um in „Alles wird gut, solange wir wild sind“ und hinterlässt ein wohliges Kribbeln. Auch, wenn der Satz inzwischen bei den meisten nur noch ein müdes Lächeln hervorruft, sorgt er in diesen Song eingebunden für ein warmes Gefühl und vermittelt, dass Harmonie im Zwischenmenschlichen möglich ist und diese nicht immer nur durch dunkle Wolken verdeckt wird.

Aber der Song ist nicht nur harmlos und harmonisch, wie die zwischendrin eingeworfenen Shouts zeigen. Bedürfnisse, Klagen und Wünsche. „Interferenzen“ wirkt nichtsdestotrotz wie eine warme Tröstung; der Gesang ist nicht mehr länger nur leer, sondern viel mehr leicht und schwerelos.

„Weil deine Luft zum Atmen nur noch dir reicht.“

Freimachen von dem, was belastet, kann unglaublich befreiend sein. Wenn es nach Apaath ginge, sind Offenheit, Gemeinschaftlichkeit und Liebe untereinander die wichtigste Grundlage menschlichen Zusammenlebens. Eine warme Message, wenn man daran denkt, von welchen Themen das Album sonst noch handelt. Der rote Faden wird abgeschnitten, die Reise ist zu Ende, das „Ich“ zufrieden und frei. Konnte sich losreißen von Lügen, Oberflächlichkeit und fehlender Menschlichkeit, die sich bedrückend durch das ganze Album zogen. Dieser Eindruck der neu gewonnenen Freiheit gegenüber sich und den anderen wird noch verstärkt durch die unbeschwerte, naive gepfiffene Melodie, mit der der Song und somit das Album endet.

„Frei sein, grenzenlos.“

Alle Bilder gehören Apaath und sind auf dem Facebook-Profil zu finden. Der Text ist auf Basis des Pressetextes und persönlichen Impressionen der Band entstanden. Ein großes Danke geht raus an Apaath für die gute Zusammenarbeit und an jeden, der bis hierhin gelesen hat. Hoffentlich konnte dir dieses Werk näher gebracht werden!

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