Lila-rot-blaues Licht und einzelne Nebelschwaden wabern auf der Bühne des Kulturzentrum Schlachthofs in Bremen herum, als Mia Morgan den 11. April eröffnet. Mir ist sie schon bekannt, damals als Vorband der Leoniden unterwegs. „Hallo, ich bin Mia Morgan aus dem Internet“ lächelt uns die Kasslerin entgegen. Diesmal wirkt sie selbstsicherer, hat einiges an Bühnenerfahrung dazu gewonnen und der Kontakt mit ihren Fans hat ihr sichtlich gut getan. Ihre zweite Single „Es geht dir gut“ ist inzwischen draußen, ein von eingängigen Synthesizern geprägter und von einer mysteriösen Aura ummantelter Song mit dem Titel. Die Musik der Gruppe Drangsal steht ihr sichtlich besser als die Leoniden – was sich auch durch die Stimmung im Publikum bemerkbar macht.
Locker die Hälfte der Konzertbesucher kennen die junge Musikerin, sodass der bereits 2018 veröffentlichte Song „Waveboy“ ordentlich Anklang findet, gekonnt textsicher mitgesungen wird und vereinzelt sogar die ersten Moshpits in dem kleinen Innenraum der Kesselhalle die Besucher durchmischen. Die Ränge sind bereits gut gefüllt und auch hier nickt der ein oder andere wohlwollend mit dem Kopf zu Mia Morgans „Gruft-Pop“. Geschmückt mit einer dieser schrecklich niedlichen Franzosenmützen, pinkem Shirt und Silberkettchen nimmt sie das Publikum mit auf eine abenteuerliche Reise, verlockend glitzernd vor Verspieltheit, Authentizität und Sarkasmus. Auch wenn es nicht das erste Konzert mit Drangsal ist, scheint sie selbst noch nicht ganz davon überzeugt zu sein, dass sie diese Chance wahrnehmen kann. So lässt sie uns daran teilhaben, dass sie bis vor kurzem noch in der ersten Reihe der Drangsal Konzerte stand. Ich muss schmunzeln und immer mehr erinnert sie und ihre Musik mich an eine weibliche Version von Max Gruber. (Dass ich damit nicht alleine bin, hat mich im Nachhinein ziemlich überrascht) Der herausfordernde Blick, die extravaganten Klamotten und das Fünkchen Frechheit in ihrer Stimme – das steht ihr verdammt gut.
Selbstsicher, authentisch und mutig lässt sie ihre Blicke getragen durch eine Stimme, die gehört werden will, durch die Kesselhalle gleiten. Und wenn sie nicht gerade singt, unterhält sie sich grinsend mit dem Publikum. Hier und da sind ihre Fans verteilt – eine weiße Rose wird passend zu der Zeile „Auf einem blauen Damenfahrrad, Fahrradkorb voll weißer Rosen“ auf die Bühne geworfen und immer wieder durchbrechen verschiedene Rufe die Musik.
Doch weil sie zumindest heute nur als Support auf der Bühne steht, ist ihre Show nach einer guten halben Stunde dann auch vorbei; als nach Zugabe gefordert wird, muss sie verlegen zugeben, dass sie keinen Song mehr hat. Ich bin mir aber sicher, dass ich nicht die einzige Person sein werde, die darauf warten wird, bis sie genug Songs für eine Zugabe hat. War mir ein weiteres Vergnügen, Mia Morgan!
Ich hätte es eigentlich nicht anders erwarten dürfen. Doch auch ich werde langsam ungeduldig, als sich auch um 21 Uhr nichts auf der Bühne regt. Die Minuten verstreichen und immer öfter bannen sich „Drangsal“-Sprechchöre durch die Gespräche, verebben aber kurz danach wieder. Es würde eh keinen Sinn machen, die Herren der Gruppe Drangsal fangen dann an, wann sie anfangen wollen und lassen sich die Kunstpause nicht nehmen. Mit ordentlicher Verspätung spaziert die Band rund um Max Gruber aber schließlich doch auf die Bühne, allesamt gekleidet in festliche Gewänder. An der Spitze Gitarrist und Sänger Max Gruber höchstpersönlich, in Szene gerückt durch schwarze Spitze und blau-rot geschminkte und mit Glitzer verzierte Augen.
Kurz nach dem bejubelten Aufgang die Zeilen „Tag für Tag, von früh bis spät. In irgendeiner Klein- oder meinetwegen Großstadt“; der zweite Song „Jedem das Meine“ des neuen Albums „Zores“. Streiten könnte man über die Platzierung als ersten Song, aber spätestens als das Publikum lauthals „Ich will doch nur euer Bestes, ich will jedem das Meine“ mitsingt, lasse ich mich zufrieden in die Setlist fallen. Der rot-blaue Glitzer im Gesicht des Sängers wird in die Atmosphäre übertragen. Überrascht davon, wie textsicher die Zuschauer sind, stürze ich mich in die ersten Moshpits und vergesse für einen kurzen Moment das Geschehen um mich herum. Hier steht das Individuum im Vordergrund; Egoismus ist ein Wort, das Drangsal wohl oft an den Kopf geworfen bekommt. Aber ich genieße erst einmal die gehobene Arroganz und den triefenden Sarkasmus, eine angenehme Abwechslung von der sonstigen Oberflächlichkeit. Weiter geht es mit einem Potpourri aus Songs aus dem ersten und zweiten Album, auch Klassiker wie „Love Me Or Leave Me Alone“ dürfen nicht mehr fehlen. Und dann nimmt Drangsal jeden einzelnen Zuschauer zu den Zeilen „Magst du mich, oder magst du nur noch dein altes Bild von mir“ ein, schwebt wie ein Geist unter der Decke der Kesselhalle und zieht an den Fäden seiner Marionetten, bringt die Menge zum Tanzen. Auch wenn das Konzert nicht ausverkauft ist, sind für einen Donnerstag Abend doch erstaunlich viele tanzbereite Konzertbesucher anwesend. Es ist inzwischen fast unmöglich, dem Sog des immer größer werdenden Moshpits zu entkommen, der jeden Zweifel zu verschlucken droht. Hier gibt es nichts größeres als die Band auf der Bühne, Sorgen und Stress weichen meiner Lieblingszeile „Ich hab den Kopf voll mit Pflastersteine – weil du nie kapierst, was ich meine“.
Ohne Mühe zieht Max Grubers Stimme jeden einzelnen Besucher mit seinem kleinen Finger in seinen Bann. Immer mehr, immer lauter, immer enger. Aufbrandende Schreie, die Max Gruber nackt sehen wollen. Verlangen. Arroganz. Verlorene Seelen, die auf den Abgrund zusteuern. Am seidenen Faden wieder zurück gezogen werden. Marionetten der Musik. Ein großer Klumpen aus Fans in der Mitte, eine sich immer weiter aufladende Stimmung. Die schlichten, immer wieder aufblitzenden Lichteffekte brennen sich hinter den Augen fest, untermalen die zuckenden Gliedmaßen.
Doch immer noch wird mehr gefordert. Und Drangsal ist bereit, dieses „mehr“ zu geben. Schließlich ist das heute der Tourabschluss der Zores Tour – und das muss gefeiert werden, wie Max Gruber das ein oder andere Mal verkündet. Abgesehen davon unterbricht er das Set immer wieder durch verschiedene Ansagen, eine davon handelt von Mia Morgan & warum sie das ist, was seiner Meinung nach deutscher Musik fehlt. Und als er dann den nächsten Song für sie spielt, sind auch bei mir alle Zweifel seinem Charakter gegenüber widerlegt. Der junge Musiker weiß definitiv, was er zu tun hat und wie er es am Besten anpackt. Abgesehen von dieser Professionalität spürt man aber auch den Drang der Selbstinszenierung und die Verrücktheit, die sich die Band nicht nehmen lässt. Das Grandiose ist aber nicht nur die Bühnenpräsenz, nein; viel mehr, dass das Publikum dort direkt mit einbezogen wird. Die Gruppe Drangsal liebt es, mit ihren Fans zu spielen und die Fäden zu ziehen. Was aber willentlich von eben diesen bejubelt wird.
Das schlichte Z im Hintergrund, das als einzige Dekoration die Bühne schmückt, strahlt immer wieder auf und passt wie die Faust auf’s Auge zu der Stimmung in Ekstase. Von einer Sekunde auf die andere untergetaucht im Strobo, in der nächsten verloren im Moshpit. Der ganz und gar nicht sanft ist. Aufgestaute Gefühle, aufgestaute Zurückhaltung, das alles wird entladen.
„Ich liebe euch alle“ ist nicht mehr länger eine leere Floskel. Das hier ist echt, realer als real. Nicht mehr länger nur eine Inszenierung, jeder Zuschauer ist Akteur oder Statist, als Drangsal den Song „Eine Geschichte“ anstimmt. Heute sind alle Tänzer, morgen wird dieses Gefühl wieder verflogen sein. Ich will gar nicht an ein Morgen denken, will mich fallen lassen im Hier und Jetzt. Donnerstag Abend, Kulturzentrum Schlachthof. Wie das wohlige Räkeln in der viel zu schaumigen Badewanne. Wie eine Einladung auf den prickeligsten Champagner. Würde mich nicht wundern, wenn gleich Lametta von der Decke fällt. „Scheiß egal was ihr macht, aber genießt es“ wird schnell das Motto des Abends. Grenzenlose Freiheit. Jeder einzelne Song ein erneuter Höhepunkt. Immer mehr, immer lauter, immer enger…
Der letzte Song, ein Cover. „1000 und 1 Nacht“ soll es sein. Ich finde mich selbst ohne Ziel herumtanzend auf der höchsten Tribüne wieder. Gerade noch im Moshpit geschwitzt, ist der plötzliche Platz willkommen. Endloses Fallen. Immer wieder nach vorne, immer wieder rein in die Massen.
Beitragsbild (c) Thomas Hauser