Sportunterricht. Verhasst oder geliebt, aber immer anstrengend. Mal Ballsportarten, oder Mal zur Abwechslung ein kleines Spiel zwischendurch, Team- oder Einzelsport. Irgendwann wird alles egal, das einzige Ziel ist das Ende der Stunde. Die Schweißtropfen werden auch nicht weniger, der Hals immer trockener. Verheißungsvoll grüßt die Wasserflasche aus der Umkleidekabine, beneidet werden die Mitschüler, die vermeintlich krank sind. Schrille Trillerpfeifen, Bälle an den Kopf, viel zu kurze und enge Sporthosen, um beim Lehrer noch den ein oder anderen Punkt rauszuholen.
Leoniden Shows. Eher geliebt als verhasst, hoffe ich zumindest. Auch immer anstrengend. Ich wage zu behaupten, dass sie sogar anstrengender sind als Sportunterricht. Wie ein Flummi auf und ab springen, in die Fluten des Moshpits stürzen und mitsingen, als ob es um einen Pokal gehen würde. Prüfen wir Mal nach, was das Phänomen Leoniden gegenüber dem Sportunterricht zu bieten hat.
Wir schreiben den 06. März, einen launischen Mittwochabend. Mein Zug fällt aus. Der Abend fängt schon Mal gut an, denke ich mir. Als es wenig später dann noch anfängt zu regnen und ich feststellen muss, dass ich die Hälfte meiner Sachen Zuhause vergessen habe, wird meine Laune noch schlechter.
Irgendwie bin ich dann doch zu der heutigen Konzertlocation, der Kulturetage in Oldenburg, gekommen und wärme meine frostigen Finger im warmen Vorsaal wieder auf. Was mich wieder grinsen lässt ist Bandmitglied Djamin Izadi, der gerade aus dem Fahrstuhl herauskommt und von vermeintlich unauffälligen Blicken verfolgt wird. Sein Outfit ist ganz so, wie ich es mir vorgestellt habe – die Sporthose und eine seiner unzähligen Sonnenbrillen auf den Haaren, ganz wie man ihn von den unzähligen Instagram Storys kennt. Die ich übrigens nur empfehlen kann. Also, wenn man fast vor Langeweile stirbt. Oder einen Fetisch für Bands hat, die dich von der einen auf die andere Sekunde anschreien. Nein, eigentlich ist es schon ziemlich unterhaltsam…
Schließlich wird es in der Vorhalle immer voller – aber längst nicht so voll, dass man auf den Gedanken kommt, dass das Konzert ausverkauft ist. Wie so viele Konzerte der nicht enden wollenden „Kids will Unite“ Tour. Im Herbst geht es übrigens weiter – geradezu rekordverdächtig, wie viele Shows die Jungs spielen und wie viele Leute immer und immer wieder aufkreuzen.
Auch in Oldenburg wird verheißungsvoll angekündigt, dass es voll werden wird. Das erste Ziel der Band hier war der viel kleinere Musikclub „Amadeus“, der aber bereits nach wenigen Monaten ausverkauft war. In der Kulturetage lehne ich mich zurück und genieße den Blick auf die Bühne, auf der ein großer, goldener Schriftzug, bestehend aus den einzelnen Buchstaben des Bandnamens. Liebevoll zusammen gewerkelt und gestaltet. Mal etwas Anderes als die ganzen Stoff Banner, die andere Bands mit sich bringen. Bestimmt auch viel aufwändiger.
Mit einem „Hallo, ich bin Mia Morgan aus dem Internet“ startet das Konzert pünktlich um 20 Uhr. Wer da auf der Bühne steht, ist dem ein oder anderem bereits bekannt, trotzdem wirkt die junge Mia auf den ersten Blick zurückhaltend und durch die inzwischen große Anzahl an Menschen eingeschüchtert. Dieser Eindruck legt sich aber, als sie zu ihrer Gitarre greift und beherzt die ersten Akkorde anspielt. Ihr forscher Blick wandert durch die Menge und übertönt die letzten Gespräche. Ganz alleine steht sie auf der Bühne, geschmückt durch Stimme und Gitarre. Das, was sie macht, nennt sie selbst „Gruftpop“ und trifft damit ziemlich gut in den Zeitgeist der jüngeren Generationen. Ein interessantes Genre, eine interessante Stimme. Die nach mehr klingt. Getaucht in gelb-orangenes Licht präsentiert sie ein halbstündiges Set, dass das Publikum aber erst bei den letzten Songs so wirklich abholt. Gespaltene Meinungen schwirren umher, mittanzende Fans vermischen sich mit emotionslosen Gesichtern. Was Mia Morgan dann auch mutig anspricht. Das hätte auch nach hinten losgehen können… Dieser Mut blitzt immer öfter in ihrem Set hervor. Er zieht sich zusammen mit Trotz durch ihre Performance, verziert mit Glitzer und Tagträumerei.
Wo andere Künstler mit belanglosen Klischees um sich werfen, tauscht Mia Morgan diese durch herausfordernde Zeilen aus, die vor Sarkasmus nur so triefen. Tanzbare Refrains, die das Kopfnicken nicht vermeiden lassen und eingängige Synthesizer Melodien.
Bisher hat Mia Morgan einen Song veröffentlicht, „Waveboy“, nur ein paar Tage später soll dann aber die nächste Singleauskopplung „Es geht dir gut“ folgen. „Waveboy“ klingt verspielt, verträumt und handelt von der achtziger-Melancholie und ihrer Liebe zu ihrem Waveboy – „Alle meine Freunde hören nur noch Trap, ich hab keinen Bock auf schlechten Deutschrap, ich steh auf Nekromantik, wie damals Bela B.“ Weitere Songs lassen sich als Demoversionen auf ihrem Soundcloud Account finden.
Dann, ein letzter Blick auf mein Handy. Die Digitaluhr bewegt sich immer weiter auf 21 Uhr zu. Mein Blick richtet sich gespannt nach vorne. Begleitet von dem euphorischen Sprechgesang „Le-oniden“ aus dem Publikum erobert die angesprochene Band die Bühne für sich. Beginnend mit einem Intro lassen sich die fünf Wahl-Kieler erst einmal Zeit zum Ankommen und genießen die erwartungsvolle Atmosphäre. Auf der Bühne befinden sich verschiedenste Instrumente, Klanghölzer und der berüchtigte – ja, wie sagt man, „Synthie-Tisch“ mit ausgebautem Percussionspielzeug und allerlei anderes Spielzeug; die Kuhglocken dürfen hierbei nicht vergessen werden…
Das aufwendig zusammengestellte Equipment erweckt den Eindruck einer überaus durchdachten und sorgfältig geschliffenen Bühnenshow, in der jahrelange Arbeit steckt. Die fünf jungen Musiker geben selbst zu, dass sie perfektionistisch an alle Sachen herangehen, die auch nur entfernt mit der Band zu tun haben. Das zahlt sich auch aus – nach dem Intro schließt sich direkt der Song „Colorless“ an und die Band legt richtig los.
Sänger Jakob Amr grinst noch kurz in die Menge, eine Sekunde später feuert er die Zeilen „We have to stop the fire, but you’re the one who lights it. Again and again and again and again“ in die offenen Münder der wartenden Menge, die mit begeisterten Zurufen und lautem Gesang reagiert. Gepackt, mitreißend und euphorisch. Die Zuschauer kleben an den Lippen und Instrumenten der Kieler, singen die Songs aus voller Überzeugung mit, fiebern dem nächsten entgegen und tanzen sich die Gliedmaßen locker. Wie aus der Pistole geschossen schließen sich die Songs einander an, jeder startet mit einer Millisekunde Verschnaufpause und dem direkt anschießendem Jubel. Das Prinzip „Actio, reactio“ aus dem Physikunterricht habe ich noch nie so heftig miterlebt.
Pausen sind auch eher Mangelware und so wird dem Publikum nur in den Ansagen Zeit gelassen, ein Mal kurz durchzuschnaufen – und die Betonung liegt hier wirklich auf „kurz“. Mein Puls verschnellert sich unaufhörlich, landet irgendwo jenseits von gut und böse. Mehr geht nicht, denke ich, nur um in der nächsten Sekunde noch mehr geben zu wollen. Aber es geht nicht nur mir so – auf der Bühne ist keine Spur von dem Willen, aufzuhören sichtbar. Immer mehr, immer weiter. Alles zu geben ist die Devise, hier wird sich in unbekannte Level katapultiert. Die Band pusht sich gegenseitig immer weiter an, niemand will als erstes nachlassen.
Das ungefähr anderthalb Stunden andauernde Set ist gefüllt mit euphorischen Songs, die mit jedem mitsingenden Fan nur noch klarer machen, warum diese Band sich verdienterweise einen großen Namen in der Indie-Rock Szene gemacht hat. Alle Anwesenden sind mit Herzblut vorbei, die Leidenschaft durchströmt jeden einzelnen Körper und ein Feuerwerk aus Gefühlen hält das Geschehen aufrecht. Immer wieder explodierende Show Effekte mischen sich mit den glücklichen Gesichtern im Publikum, der tosende Sound wird fast übertönt durch unzählige Stimmen. Ein gemeinsamer Puls, eine gemeinsame Dynamik zerrt an den Kräften jedes einzelnen, lädt die Stimmung auf und befähigt dazu, immer weiter zu machen. Angetrieben davon setzten sowohl Band als auch Zuschauer immer wieder einen drauf und für einen Song zieht es Jakob Amr dann zusammen mit seinem zusammengebastelten Percussion Set in die Menge. Irgendwie stehe ich auf einmal auch mit in dem kleinen Kreis, der sich um den Sänger gebildet hat und tanze mich zusammen mit Jakob und allen anderen Fans an einem eingeschobenen Akustikpart entlang. Die gesamte Kulturetage hebt und senkt sich im Takt, freudestrahlende Gesichter segeln an mir vorbei, ich bekomme einen oder auch mehrere Ellenbogen in den Rücken und mittendrin steht Jakob und trommelt (mehr oder weniger) seelenruhig sein Akustikset. Auf die geringe Entfernung erkenne ich nicht den geringsten Hauch von Müdigkeit in seinem Gesicht, das einzige, was sich erkennen lässt, ist seine Konzentration und alle Leidenschaft, die er in jeden einzelnen Moment gibt. Aber dann zieht dieser Moment auch wieder vorbei und Jakob lässt sich auf den Händen der Menge wieder zurück auf die Bühne tragen – und natürlich unterbricht er dabei keine Sekunde sein Getrommel. So möchte ich später auch meine eigene Musik fühlen stelle ich fest, als ich mich direkt in die Wogen des nächsten Moshpit stürze. Jede Sekunde brandet ein neuer auf. Schwerelosigkeit. Aufgefangen. Weggestoßen. Aneinander gepresst. Unübersehbare Schweißflecken. Und dann meine Lieblingszeile „Fuck it all, we killed it tonight“ aus „Kids“. Gesungen von hunderten Lungen, interpretiert von hunderten Körpern, die sich alle verschieden bewegen, in einem von den Jungs auf der Bühne vorgegebenem Rhythmus. Ein großer Moment, der wieder viel zu schnell vom nächsten abgelöst wird – aber sich trotzdem fest brennt. Gegenseitiges Hochschaukeln bis zur letzten Sekunde, selten macht es so viel Spaß, sich so sehr zu verausgaben.
Auf der Bühne herrscht nicht weniger Treiben. Sänger Jakob zieht sein Mikrofonkabel hinter sich her, beschreitet seinen ganz eigenen Weg. Singt ins Publikum, singt für sich. An den Synthesizern zappelt Djamin Izadi herum, in der einen Sekunde noch vertieft in sein Instrument, in der nächsten wieder ganz woanders, aber immer exzessiv herum hüpfend.
Besonders ins Auge fällt Gitarrist Lennart Eicke, der seine Gitarre in allen möglichen Positionen um seinen Körper herum schwingt und schwindelerregende Sportübungen in seine Performance einbaut. Erst geht er in die Hocke, nur um im nächstem Moment wieder aufzuspringen und die Gitarre mit zu schwingen. Und das nicht nur ein, zwei Mal – nein, das ganze Konzert über. Die Frage, was er wohl zu sich genommen haben könnte, bleibt unbeantwortet – ich tippe aber einfach mal auf Adrenalin und den ganz großen Spaß daran, auf der Bühne stehen zu dürfen. Seine Performance macht Mut, sich völlig in der Musik fallen zu lassen und mal nicht irgendeinem Zwang nachgehen zu müssen.
Auch JP Neumann am Bass hat sichtlich Freude an seinem Instrument. Im Vergleich zu seinen Bandmitgliedern bewegt er sich zwar ruhig, aber tippelt trotzdem auch überdurchschnittlich viel hin und her. Bemerkenswerte Bewegungsabläufe sind auch bei ihm zu vermerken, während er trotzdem ganz gelassen sein Instrument voll und ganz unter Kontrolle hat. Die Bassline untermalt die Musik mit einer Beständigkeit und hält die ganze Euphorie zusammen. Damit der immer wieder aufsteigende Funkenregen nicht in sich zusammen fällt.
Felix Eicke an den Drums hat wiederum weniger Chancen, sich so exzessiv zu bewegen wie seine Bandkollegen. Aber trotzdem weiß er, was Bühnenpräsenz heißt und wird nicht benachteiligt. Mein Blick bleibt immer wieder an seinen herumwirbelnden Drumsticks hängen, die er dazu missbraucht, sich die Seele aus dem Leib zu spielen und das Schlagzeug gehörig zu verdreschen. Die Sticks wirbeln nur so über die verschiedenen Trommeln und der antreibende Beat setzt sich in den Köpfen der Zuschauer fest, dominiert den schneller werdenden Herzschlag und fängt ihn wieder ein, wenn er außer Kontrolle zu geraten droht.
Auch, wenn die fünf Jungs zusammen schon unzählige Konzerte hinter sich haben, ist es immer wieder ein Privileg, auf der Bühne vor so vielen Menschen stehen zu dürfen, wie Jakob Amr unzählige Male zugibt. Ich persönlich freue mich über jede Danksagung, die er dem Publikum entgegen bringt, weil ich ein großer Fan von gegenseitiger Wertschätzung bin. Die bei den Leoniden auf jeden Fall vorhanden ist – es fühlt sich an, als würden sie uns in ihren verrückten Traum, auf einer großen Bühne zu spielen, mitnehmen und uns Teil ihrer nicht enden wollenden Reise sein lassen. Die definitiv besser als Sportunterricht ist – die ganze Kulturetage hat sich in dem Set zusammen zu einer riesigen, auf und ab springenden Masse gefunden. Selbst ganz hinten lassen sich immer noch begeisterte Menschen finden, die im Takt der Musik abgehen. Wie sollte es denn auch anders sein, wenn die Jungs auf der Bühne es so vorbildlich vormachen.
Besser als jeder Sportunterricht, denn hier sind alle vereint in der selben Sache – der Musik. Und auch wenn ich mir extra mein Sport Trickot angezogen habe, ist das hier doch etwas ganz anderes als der gezwungene, aufgesetzte Sportunterricht. Energie wird mutwillig festgelegt, die Belohnung ist der grenzenlose Dank der Band, der sich in den freudestrahlenden Gesichtern wiederspiegelt. 100% geben, ohne, dass man danach das Bedürfnis hat, sich sein eigenes Grab zu schaufeln oder den Sportlehrer mit seinen Blicken erdolchen zu wollen.
Beitragsbild: Leoniden (c) Robin Hinsch