Bremen, 16. August 2019 – Bunte Wimpel und der Duft nach orientalischem Essen. Die Luft flackert von euphorischen Kinderstimmen, die durch den Rhododendrenpark toben oder sich beim Kinderschminken ein Lächeln ins Gesicht zaubern lassen. Der MOIN-Stand grinst mit roten Backen und auf den zahlreichen Sitzgelegenheiten tummeln sich sowohl alte Festivalgänger, als auch ihre zukünftigen Nachfolger. Viva Con Agua bahnt sich fahnenschwenkend den Weg durch die Menge, Sticker werden verschenkt und die Crew empfängt den neugierigen Besucher mit einem offenen Lächeln.
Das Horn To Be Wild Festival ist aber noch mehr als familiäre Stimmung und lustiges Geplänkel – ich bekomme heute Koala, PAUL, Alli Neumann und Provinz zu sehen, nachdem ich durch Flickering Lights auf das Festivalfeeling eingestimmt wurde.
„Hallo Horn, seid ihr schon wild oder chillt ihr noch? Wir sind Koala aus Bremen und greifen die Mitte an“. Koala sind laut, wild, aber auch verträumt und gechillt. Mit Indie-Pop wissen sie zu begeistern, aber kommen auch den optischen Ansprüchen entgegen – mit einem selbst gesprayten Banner und dekorierenden Blumensträußen schmücken sie die gedankenverlorene Stimme von Sänger Patrick Heym. Das Schlagzeug dazu klingt so dröhnend und präsent wie ein Feuerwerk, begleitet durch eine prägende Bassline.
Zu einer der neuen Singles „Ruf mich nur nicht an“ hüpft ein von Kopf bis Fuß in ein Telefon gekleideter Jemand auf die Bühne und tanzt euphorisch mit, steckt das Publikum innerhalb kurzer Zeit an. Filigraner Stoff bunter Hemden schwebt umher, verfängt sich mit verträumten Klängen und imaginären Seifenblasen. Irgendwo dazwischen schweben in Watte getauchte Gedanken. „Kommt näher; das ist ein kleiner Aufwand für euch, aber eine große Freude für uns.“
Der nächste Act nennt sich Paul und schnell erklärt sich der Bandname: „Ich stelle mal die Band vor: Der am Schlagzeug ist Paul und ich heiße auch Paul.“ Sowohl der Sänger- & Bassist-Paul als auch der Schlagzeug-Paul versuchen eine Sphäre zu schaffen, in der nur noch die eigene Rockmusik existiert. Beide streuen auf ihre eigene Art und Weise ihren Teil in die genannte Sphäre: sei es mit Pauls markantem, aber gleichzeitig auch in sich gekehrtem Gesang, oder mit den fetzenden Drumbeats, die der andere Paul abliefert.
Im Kontrast dazu könnte die Bühnenshow des nächsten auch mit lauten Feuerwerken und einer gewaltigen Pyroshow eingeläutet werden, so selbstsicher betritt Alli Neumann die Bühne. Links, rechts und von hinten eingerahmt durch ihre Band, die ihr Sicherheit verleiht. An ihre Hose hat sie ein grünes Tuch gebunden, das ihr bei jeder Bewegung hinterherfliegt und mit dem grünen Licht um die Wette schimmert.
Ihre Attitüde lässt sich ganz leicht einfangen durch die Phrase „Scheiß drauf – und tanz drüber.“ Rotzfrech, aber auch reflektiert zeigt sie sich den Zuschauern. Die ihre Show nach kurzem Zögern begeistert aufnehmen, mittanzen und einzelne Zeilen lautstark mitsingen. Ihre Performance wirkt allerdings ein bisschen aufgesetzt – als müsste sie sich selbst inszenieren, um am Besten anzukommen. Als hätte sie eine Maske auf. Aber irgendwie passt es erstaunlich gut zu der Musik, in der sie innere Monster und den Zwiespalt mit verflossener Liebe besingt. Aber eins muss man ihr lassen – sie will es wirklich wissen und gibt sich die allergrößte Mühe, von einer Seite zur anderen zu springen und fröhlich dem Publikum eine gute Show zu liefern.
„Ich habe aufgehört zu rauchen. Wegen der Musik!“, verkündet sie mit einem Grinsen und zeigt einmal mehr, wie viel ihr das Ganze hier bedeutet. Auch wenn Alli so professionell wirkt, als würde sie nichts anderes machen, als ständig auf der Bühne zu stehen – das Privileg, immer größere Festivals und eine eigene, komplett ausverkaufte Tour zu spielen, ist für sie alles andere als selbstverständlich. So lässt sie die Zuschauer auch an ihrem eigenen Leben teilnehmen: „Ich war heute morgen noch krank, aber durch den Hype geht es mir gleich besser!“ Auch Ehrlichkeit wird zwischen die launischen Songs gestopft. Das Banner für das Festival konnte Alli sich schlichtweg nicht leisten – „Musik ist ein teures Hobby. Aber das ist nicht schlimm, das macht kreativ und deshalb stehe ich hier.“
Sie setzt alles auf eine Karte, spielt einen Song nach dem anderen und zieht ihr Publikum an ihrem kleinen Finger mit in eine Welt des Glückspiels. Sie singt sich ihre Gefühle aus der Seele und liefert gleichzeitig eine energiegeladene und willensstarke Performance ab, die sie und ihre Band als Gewinnertypen dastehen lässt. Die mit zu wenig Geld in der Tasche trotzdem das Beste aus der Situation machen können.
Nach wenigen Songs merkt sie grinsend an: „Ihr könnt ja richtig singen, warum stehe ich hier?“, was in einer Welle aus Jubel und Gelächter resultiert. Das Publikum taut so langsam auf und tanzt freudig weiter, noch ein bisschen ausgelassener als vorher.
Aber auch politisch kann Alli Neumann, als sie das Cover von Veronika Fischer‘s „He, wir fahr‘n mit dem Zug“, der aus der DDR stammt und das Zugfahren besingt. Schaut man zwischen die Zeilen, entdeckt man aber noch viel mehr – und zwar die Freiheit von offenen Grenzen, über die auch Alli sehr glücklich ist. Mit einem großen Lächeln verlassen die Musiker die Bühne, gestärkt mit Zufriedenheit und Zurufen.
Dunkelheit legt sich über den Platz. Vor der Bühne versammelt sich eine große Menschenmenge, als sich Vincent Waizeneggers Stimme zu der Dunkelheit legt.
Der erste Song „Mach Platz“ ertönt über die Köpfe hinweg, verfängt sich in den Baumkronen und lässt junge Herzen schneller schlagen unter dem Beat der Musik. Provinz treffen den Zeitgeist der jüngeren Generationen; begeistern mit melancholischer Musik und frechen Texten. Beschrieben wird das ewige Jungbleiben, Partys, Drogen und Gefühle. In Szene gesetzt durch eine drängende, lieblich-lispelnd starke Stimme und gluckernde Polyphonie durch den untermalenden Gesang von Moritz Bösing und Robin Smid. Melancholisch tragende Keys spielen sich ihren eigenen Weg durch die Songs, in denen das Hauptaugenmerk auf einem starken Refrain liegt. Provinz sind dankbar, um die späte Uhrzeit spielen zu dürfen und der volle Platz scheint es ebenso zu sein. Wo die ganzen Menschen auf einmal herkommen, die bei Alli Neumann noch tapfer im Schatten versteckt waren?
Ein Set bestehend aus Songs der EP „Reicht dir das“ und bisher unbekannten Songs, die aber auch von den Fans in der ersten Reihe mitgesungen werden können. Und von der Oma mit den gekräuselten weißen Haaren, die bei Alli Neumann bereits hoch gefeiert wurde.
Besonders bei dem Song „Was uns high macht“ singt die Menge aus unzähligen Kehlen lautstark mit, der Gesang getränkt in die Euphorie langer Abende mit guten Freunden. Den Kopf in den Himmel gelegt, Augen geschlossen.