In seinem Debütalbum „Angst gegen Vertrauen“ schafft es der Künstler Michèl von Wussow, sich detailverliebt in die Emotionen anderer hineinzuversetzen und mit einer aufmerksamen Beobachtungsgabe auch nur die kleinste Gefühlsregung wahrzunehmen und einzuordnen. Seine Musik darf träumen, ohne die Realität unter den Füßen zu verlieren. Darf Erlebtes aufarbeiten, ohne gesellschaftlichen Normen einen ungesund hohen Stellenwert beizumessen. Dabei stellt er immer wieder seine eigenen Gedanken zurück und versucht denjenigen seine Stimme zu schenken, die selber nicht ins Rampenlicht wollen oder können. Feinfühlige Zeilen werden eingebettet in raue, optimistische Melancholie und in einen Klangteppich, dem sowohl kraftvolle als auch zurückhaltende Melodien hervorragend stehen.
Der kleine Zeiger der Bahnhofsuhr schreitet herrisch auf die drei zu, die Gänge sind erfüllt von hektischen Passagieren. Mich führt es weg vom Bahnhof und die paar Meter weiter zum Schlachthof, der sich hinter der großen ÖVB-Arena versteckt. Skater*innen tummeln sich vermummt in dicke Schals auf der kleinen, stickerversehenen Anlage, während das Gebäude sich mit seinen braunen, abgenutzten Backsteinen noch scheinbar verlassen hinter ihnen erstreckt. Die ersten Töne des Soundchecks von Pohlmann ertönen, als Michèl von Wussow die Treppen strahlend erklimmt. Wir sind heute zum Interview und einem Spaziergang durch Bremens Nachmittagsgefühle verabredet.
„Ich habe versucht, alles von mir aus diesen zwei Jahren in das Album zu packen.“
Mit „Angst gegen Vertrauen“ hat der gebürtige Hamburger sein Debütalbum veröffentlicht, auf dem sich zehn stolze Songs tummeln. Acht davon haben seit seiner Debütsingle „Für immer Kippen holen“ aus 2020 über die letzten Jahre verteilt schon das Licht der Welt erblickt, allen voran „Berg“, ein berührender Song über die Beziehung zu seinem Vater. Die autobiografische Ehrlichkeit mag schwierig zu fassen sein, aber zwischen klangvollen Metaphern und einem zärtlichen Songaufbau spielt sich der Song direkt ins Herz.
Entstanden sei das Grundgerüst während einer unfreiwilligen Wanderung durch Schottland. Das Busunternehmen habe ihn nur auf dem Hinweg in ein Naturschutzgebiet gebracht – ohne Rückfahrticket. Doch anstatt sich von der Missgunst ergreifen zu lassen, ließ er sich vielmehr von der beeindruckenden Landschaft mitreißen und ganz besonders von dem Berg, der sich vor ihm erstreckte. „Es hat mich dann wie ein Schlag getroffen und ich dachte: Jeder Mensch hat diesen Berg.“ Für Michèl sei das eben sein Vater. Die Bergmetapher ist sorgfältig gewählt und lässt den Hörenden erst nach und nach die Bedeutung des Songs entschlüsseln. „Ich möchte die Emotionalität gar nicht vorgeben. Die Leute sollen’s erstmal fühlen.“ Während wir durch einen bunt plakatierten Tunnel laufen, erzählt Michèl, dass die Wirkung nach außen aber nicht das sei, was im Schreibprozess besonders wichtig sei.
„Die Musik ist da, wie sie ist und ich muss mir keine Gedanken darüber machen, was mein Gegenüber oder ich denken.“
Vielmehr sei die Musik wie ein Ventil für ihn, um das Alltägliche zu verarbeiten. Er geht Konflikten aus dem Weg, um diese in seinen Songs zu lösen. Umso schöner sei es dann, wenn die Songs später dann einen Einfluss auf das Alltägliche haben – diese Wechselwirkung geschah beispielsweise auch mit „Atmen“. Mit leichten Gitarren und einer sanften Gesangsmelodie beginnt ein Song, der im Refrain auf einmal beeindruckend an Kraft gewinnt. Bildlich entführt Michèl in seine Küche und in den Kopf seiner besten Freundin, die vor seinen Augen eine Panikattacke durchleben musste.
Mit aufgewühlten Gefühlen sei Michèl einen Tag darauf mit seinem Produzenten Helge Preuss im Studio gewesen. Ohne sich den Druck zu machen, das Beste aus der Session herauszuholen, redeten die beiden stattdessen gut fünf Stunden über das Erlebte, bis schließlich ganz von selbst aus den Gefühlen heraus die ersten Akkorde und dann das Riff entstanden seien. Dass gerade dieses Gefühl in seinem Schreibprozess so wichtig ist, zeigt der laute Refrain. Dem emotionalen Thema hätte auch ein akustischer gestanden, Michèl verleitete es im Refrain aber zum Griff nach der E-Gitarre. „Das war einfach da und dann war’s richtig.“ Der Song habe ihm einerseits beim Verarbeiten dieser Hilflosigkeit geholfen, aber andererseits auch die Beziehung zu seiner besten Freundin verstärkt.
Wenn das Vertrauen die Angst besiegt
Bewundernswert finde ich an den Zeilen, dass sie sich kaum auf seine eigenen Gefühle beziehen, sondern stattdessen voll und ganz auf die Freundin eingehen und darauf, ihr ein besseres Gefühl zu vermitteln. Wispern liebevoll ins Ohr und hüllen ein in eine wärmende Umarmung.
Der Song lässt mich nicht los und so zeige ich ihn eine Woche später einem Freund, der sofort von der Zeile „Rede Löcher in die Wand / Bis du wieder atmen kannst“ begeistert ist. Erst hatte ich nur an das Sprichwort vor Hilflosigkeit „Löcher in die Wand starren“ gedacht, aber er überzeugt mich von anderem: „Ich stelle mir da diese Wand vor, die dir bei einer Panikattacke den Atem nimmt. Aber dadurch, dass die Person was sagt und da ist, entstehen eben kleine Löcher in dieser Wand, damit immer mehr Luft reinkommt und du wieder atmen kannst.“
Ein Song, der mit dem Balsam im Klangteppich und der Fürsorge in den Zeilen wie gemacht ist für kalte Nächte und noch kältere Gedanken, gegen Angst und für Vertrauen. Das sei auch überhaupt das Motiv, das sich nicht nur im Albumtitel, sondern auch in allen Songs wiederfinden lasse. „Angst gegen Vertrauen beschreibt die Phase, in der die Songs entstanden sind.“ So sei „Für immer Kippen holen“ als seine allererste Single in das erste Lockdownwochenende releast worden. Eigentlich der ungünstigste Releasezeitpunkt, wie Michèl auch selbst zugibt. „Aber das Vertrauen hat stärker als die Angst gewirkt“.
Wir werden aufgehalten von einer Fußgängerampel und lächeln begeistert darüber, wie sehr sich das Vertrauen ausgezahlt hat. So durfte die Single „Narbenherz“ bereits ihren Auftritt im Podcast „Fest & Flauschig“ und schließlich in der NDR-Sendung „Inas Nacht“ feiern und viele geflickte Seelen voller Begeisterung anstecken. Es gehe um seine Mutter, die gefühlt schon so viel erlebt habe, dass es locker vier Leben ausfüllen könne und die trotzdem nie an Willensstärke verliere. Auch hier verzichtet er auf die direkte Enthüllung der Story hinter den Zeilen, sondern malt erstmal kunstvoll Metaphern auf die anfangs noch minimalistische Klangleinwand.
Fluten peitschen im explodierenden Refrain, fasziniert davon, wie aufrecht der Leuchtturm sein Strahlen in die düstere Nacht entsendet. Michèl balanciert mit beeindruckender Kopfstimme über das wackelige Geländer, streckt herausfordernd die Arme aus und lässt seinen Gefühlen freien Lauf. Seine Stimme transportiert all die Bewunderung und Faszination, aber auch die Verletzlichkeit, die sich eine Fassade voller Stärke aufgebaut hat.
Wir überqueren die Straßenbahnschienen, als Michèl voller Begeisterung gestikuliert, dass er echte Geschichten erzählen wolle. Geschichten, die berühren und dann tief im Inneren etwas in Gang setzen, das zuvor hinter alltäglichen Gedanken versteckt geschlummert hat. Geschichten, die vielleicht nicht jedem gefallen – wie in „Hauptsache du bist glücklich“, das die Geschichte eines Outings aus der Sicht des besten Freundes erzählt. „Dann eckt man eben bei den Leuten an, aber genau das will ich doch!“ Auch in seinem eigenen Freundeskreis gab es Diskussionen über das leider immer noch kontroverse Thema, die durch den Song nur verstärkt worden sind. Aber die Essenz steht: „Egal was andere erzählen / Hauptsache du bist glücklich!“ Und hinter lauten Drums und einer herausfordernden Melodie tritt der Appell an Toleranz ins Scheinwerferlicht.
Durch das Mikrofon fließen Mut, bedingungslose Liebe und die Unverständlichkeit darüber, Homosexualität überhaupt zum Thema machen zu müssen. „In meiner Wunschwelt hätte ich den Song nicht schreiben müssen.“ Auch diese Idee geistere schon lange in seinem Kopf herum, so wollte er schon lange einen Song schreiben, der für seine Werte einsteht. Sich seiner Privilegien bewusst zu sein und für andere eine Stimme zu sein, sei ihm dabei sehr wichtig gewesen.
Wenige Stunden später ist der Song der Opener eines Sets, das wie im Flug vorbeizufliegen scheint. Der Dame in Grün in der ersten Reihe bleibt das Lächeln den ganzen Song über erhalten und auch mich durchflutet das wärmste Gefühl, das Worte schenken können. Zwar steht er bei diesem Auftritt nur alleine auf der Bühne, seine Stimme vermag es trotzdem, durch den ganzen Schlachthof zu tragen und sich dort einzunisten, wo das Herz altbackene Konventionen überlagert. Und ich erwische mich auf dem Heimweg dabei, wie ich den Refrain immer und immer wieder mehr oder weniger leise vor mich hin singe.
Geschichten, die berühren
Im Hier und Jetzt laufen wir durch verwinkelte Gassen und landen schließlich vor dem kleinen, unauffälligen Café „Büchlers beste Bohne“ in der Böttcherstraße. Über den Boden zieht sich ein braun-weißes Schachbrettmuster, geschäftig klappern die Tassen gegeneinander. Ein kleines Kind rennt gegen unsere Beine und starrt mit großen Augen in unser Lächeln. Ein Strom von Passant*innen schiebt sich an der kleinen Nische vorbei, das Mädchen zwei Gäste hinter uns lächelt uns lieb zu. Die kleinen Holztische sind allesamt belegt und zwischen Bestellen und Genießen machen wir einen Abstecher über das, was auf der Tour dabei sein muss. Heute steht das erste Konzert seiner bis dato längsten Tour an, die ihn noch durch die verschiedensten Orte der Republik führen wird. Eine Routine stehe deshalb noch in den Sternen, aber seine Reise-Yogamatte und Bücher dürfen nicht fehlen. Und AirPods natürlich, die hoffentlich in einem Sessel des Schlachthofs noch auf ihn warten.
Gerade allerdings falle es ihm schwer, Musik zu hören, weil er einfach von so viel umgeben sei. Das ändere sich aber hoffentlich nach dem Release wieder. An plaudernden Touris vorbei verschlägt es uns vor den majestätisch aufragenden Bremer Dom und wir kommen darauf zu sprechen, wie es danach musikalisch für ihn weitergehe. Das sei erstmal eine kreative Songwritingphase „mit ganz viel Mukke hören und in mich hineinhorchen“. Horchen auf das, was gerade raus und erzählt werden wolle. Hinein in das, was sein Umfeld zu erzählen habe und welche Geschichten ihm über den Weg laufen.
Der wichtigste Prozess beim Songschreiben sei, dass die Geschichte ihn erstmal berühren müsse. So auch bei dem Song „160 Zeichen“, dessen Idee auf einem Gespräch zwischen seinem Bruder und seiner Schwester beruhe. Es gehe darum, sich nicht zu trauen und um die Angst, dass die Liebe aus den Fingern rinnt. Um verpasste Chancen und um die Besorgnis, all die Gefühle nicht in Worte fassen zu können. Vor allem darum, sie nicht in 160 SMS Zeichen quetschen zu können – weil all das Ungesagte sich nicht einfach so herunterbrechen und einfangen lässt. Nur passend, dass die Gesangsmelodie zwischen zwei Refrains ganz auf Worte verzichtet und stattdessen all der Wehmut und der Gefühlsachterbahn Ausdruck verleiht.
Die Songs schreibe er auch nicht alleine. Auf meine Frage hin, wie es denn sei, seine Gefühle aus der Hand zu geben und dann zusammen einen Song daraus zu basteln, bleibt er lächelnd an der Ampel stehen. „Ich lieb’s, im Team zu arbeiten.“ Das Team erweitert in den Sessions meistens sein Produzent Helge Preuss, den er während dem Popkurs in Hamburg kennenlernen durfte. Dort entstand auch erst der zündende Funke, Songs auf Deutsch zu schreiben. Mehr als ein Jahrzehnt lang textete er auf Englisch, bis er sich in Hamburg dann das erste Mal so richtig viel Zeit für seine Musik nehmen konnte und deutsche Texte für sich entdeckte. In der ersten Session sei dann auch direkt der Song „Matilda“ entstanden, der als zweite Single veröffentlicht wurde. Und was soll man sagen – die Ehrlichkeit und auch gerne die Rohheit der deutschen Sprache steht seiner Musik unglaublich gut. (Eine bezeichnende Zeile: „Du bist für mich der November / Wenn sich alles Schöne / im Wald verpisst“)
Inzwischen nehme er in die Sessions die grobe Idee mit, die er dann in Gesprächen weiter verarbeitet. Sehr wichtig sei ihm dabei auch das Feintunig der Texte; so saß er auch schon einmal in sechs langen Sessions nur an dem minimalistischen Feinschliff. Das liebevolle Gespür für seine Zeilen merkt man den Songs zwischen großen Bildern und kleinen Details auch deutlich an und das macht seine Musik vielleicht gerade deswegen zu etwas Besonderem.
Die Tauben fliegen tief an uns vorbei, als wir dem Hauptbahnhof wieder den Rücken zukehren. Seit er 13 Jahre alt ist, schreibe er Songs und hätte sich das hier nie erträumen können. Inzwischen träume er davon, auf dem Hurricane Festival zu spielen. „Ich merke, dass das“ – lächelnd deutet er auf den Schlachthof, dem wir immer näher kommen – „das ist, was ich immer machen will.“
Wir verabreden uns für nach dem Konzert und verschwinden in gegensätzliche Richtungen. Er in den Schlachthof, um sich für seinen eigenen Soundcheck fertig zu machen und ich in die VeganBar, um meine Notizen zu vervollständigen. Bei einem pinken Burger komme ich nicht umhin festzustellen, dass sich hinter den ehrlichen Texten auch ein unglaublich sympathischer Mensch versteckt. Wundern sollte es mich nicht, bei all den Gefühlen zwischen den Zeilen, die so fernab von toxischer Männlichkeit und dem egoistischen Gefühl, nur die eigene Sichtweise zu schildern entfernt sind.