Rennende Regentropfen und schwebende Sonnenstrahlen

Zwischen Scheitern und Neubeginn präsentiert Ma Fleur fünf Songs, die in Harmonie getränkt und mit liebevollen Details gespickt sind. Durch hoffnungsvolle Träume und an verstaubten Erinnerungen vorbei führt die Reise seiner Debüt EP, die sich „Big Dreams“ nennt und in jedem Song die Quintessenz eines von Tobias erlebten Jahres widerspiegelt. Mit seiner eindrucksvollen Stimme und seiner poetischen Sprache schafft er es, Bilder von rennenden Regentropfen und schwebenden Sonnenstrahlen zu zeichnen.

Das Album startet mit einem Neubeginn in „Flock“. Mit kühlem Morgentau, mit der Erkenntnis, der Hauptcharakter des eigenen Lebens zu sein und mit wohltuenden Harmonien. Der Bass läuft zusammen mit überwundenen Ängsten davon und die Melodien finden sich barfuß auf dem Highway irgendwo abgeschottet vom Leben wieder. Mit der alten, analogen Kamera des Vaters, die auf dem vollgestaubten Dachboden gefunden wurde. Um den Sonnenaufgang einzufangen. Um so lange Fotos zu machen, bis der Film voll ist. Voll mit Erinnerungen und schwarzen Flecken.

Der Song lässt Menschen in ihren Wohnzimmern tanzen, während die Straßenlaternen ausgehen und die Kerzen runterbrennen. Er ist irgendwie ganz schön viel Herbst, aber irgendwie noch viel mehr Frühling. Der Song lässt die Arme weit ausbreiten, auf einem weiten Feld Gänseblümchen zu Ketten und schließlich ins Haar stecken und für einen Moment wieder ganz jung sein.

Die verspielten Gitarren wie baden in erfrischendem Meerwasser. Der neckische Bass wie der erste Roadtrip zu zweit mit überladenen Träumen im Gepäck. Das fordernde Schlagzeug wie die euphorische Hoffnung am Steuer. Eingeleitet durch präsente Klavierklänge, die erst einmal alleine ihren Moment genießen und schließlich abgelöst werden. Die Melodie übernimmt die Kontrolle über den Song und das Schlagzeug mischt sich energiegeladen unter, während die E-Gitarre sinnlich durch Täler und über Berge fährt. Immer wieder erklingen viele Stimmen im Hintergrund, die den Song lebendiger machen und der kraftvollen Stimme von Ma Fleur mehr Ausdruck verleihen. Im energiereichen Outro alles loslassen und der Musik die eigenen Gefühle überlassen, weil ihre Sprache in diesem Moment so viel kräftiger ist, als Worte es je sein könnten. Der Song klingt leise ab, die Töne des Neuanfangs hallen noch lange im Ohr nach.

“Like a flock of wild geese / We’ll find our way back home / Give it time / Go climb high / When you’re too low / Give it space / A sacred place / And let love grow“

Ma Fleur (c) Paula Dau

Der nächste Track wiederum trägt den bedeutungsvollen Titel „Big dreams“ und ist somit Namensgeber der EP. Der Kofferraum wird nur einen kleinen Spalt aufgemacht und schon schweben einem die Träume entgegen, die durch die Harmonien des Songs an Form gewinnen. Zusammen mit ihnen wird im Sonnenblumenfeld schwebend oder mit der VR-Brille über den Augen im kalten Zimmer getanzt. Der Song weiß genau, was er will – immer weiter nach vorne und sich seinen Platz auf der Kinoleinwand sichern. Doch auch die Melodie kann sich irren, wie der Text offenbart, der etwas ganz anderes als die euphorische Stimmung vermitteln will.

Vage Erinnerungen an Zeiten eingesperrt zwischen den eigenen Erwartungen und Zukunftsängsten ploppen mit einem leisen Piepton auf, erinnern an die eigene Klaustrophobie. Hin und her geworfen zwischen der Realität und den schwarz angemalten Träumen, in die man sich einst flüchten konnte. Die Geschichte des Songs fühlt sich an wie der beste Freund, der auf die Frage, wie es ihm geht, immer nur mit einem strahlenden Lächeln antwortet, während die Ringe unter und die Leere in seinen Augen Bände sprechen.

Ma Fleur weiß mit Sprache zu spielen und mit seinen Worten Bilder zu malen – und das Ganze zum krönenden Abschluss dann noch mit Harmonie zu verbinden. Das „We better forget“ ist mein Lieblingspart des Songs. Einmal kurz alles aufdrehen, einmal kurz die Vergangenheit ausblenden und zusammen in den Strudel der Gegenwart gezogen werden. Kennt ihr den Traum, in dem man die ganze Zeit fällt? So fühlt sich der Text an – aber zum Glück wacht man trotzdem immer wieder auf, bevor man den Boden berührt. Im Gegensatz zum geschwächten lyrischen Ich mit den schwarz angemalten Träumen.

„Wearing ripped jeans / Sow them and sow my mind”

Tobias hat diese besondere Wärme in seiner Stimme, die sich in dem Song wohlig einnistet und so schnell nicht wieder loslassen will. Die mit Leidenschaft von ihren Geschichten erzählt, ohne dabei die Gefühle der Vergangenheit zu vergessen und sich vielleicht ein bisschen zu viel in ihnen zu verlieren. Die einen Ausblick gibt vom Riesenrad über die funkelnde Stadt mit einer großen Portion Zuckerwatte in den Händen und kleinen Fäden in den nun klebrigen Haaren. Die die Atmosphäre auflädt mit ehrfürchtigem Schweigen und Sekunden später mit befreitem Lachen.

Das Musikvideo spiegelt die emotionale Zerrissenheit wider – auf der einen Seite Tristesse und Verzweiflung, auf der anderen Hoffnung und Glaube. Am eindrucksvollsten ist die Szene, in der Tobias sich in die Kühle eines Sees fallen lässt – hier mit langen Haaren, dessen Erscheinungsbild sich mit der hoffnungsvollen Atmosphäre assoziieren lässt – und dann mit kurzen Haaren wieder auftaucht. Weitaus entschlossener als zuvor, aber gleichzeitig auch verletzlicher. Die Szenen, in denen er kurze Haare trägt, sind geprägt von einem dunklen, ausgestorbenen Wald und einem verschrotteten Wagen in einer heruntergekommenen Garage. Stehen im Gegensatz zu den strahlenden Sonnenblumenfeldern und dem gemütlich durch die Landschaft ziehenden gelben Automobil.

Wir sind auf der Reise in der Mitte der EP angekommen. „While The Lights“ beginnt verträumt-melancholisch mit sich dauerhaft wiederholenden Gitarrenmotiven. Ma Fleurs Stimme legt sich auf das Songkonstrukt, lässt bis zum Refrain immer wieder Pausen und das Gesagte so unvollständig wirken. Da wartet noch mehr. Schließlich wandelt sich der Song, als bei der Zeile „my thirst can never be quenched“ ein tiefer Klavierton einsetzt, der wie ein finaler Glockenschlag wirkt, um den Song zu verstärken. Das Motiv des Anfangs bleibt zwar erhalten, aber stattdessen baut sich ein kleiner Chor auf, der für Gänsehaut sorgt und dafür, dass es im Zimmer trotz der offenen Fenster wieder warm wird.

Der Song ist für mich ein Winterlied, ein Track um trübsalblasend vom Dach des höchsten Parkhauses der Stadt in das Lichtermeer der Fabriken zu starren, während der Wind warnend um die Ohren zieht und die Hände langsam anfangen, zu zittern. Aber man hat versprochen zu warten und will deshalb noch ausharren, bis die Sonne auf- und man selbst in den Armen der liebsten Person untergeht. Den fake vergoldeten Ring grübelnd auf dem Mittelfinger drehen, die Latzhose richten und das tausendste Mal die Haare zurechtrücken, um wenigstens ein bisschen selbstsicherer zu wirken. Mit dem tiefen Klavierton schließlich aufstehen und gedankenverloren auf und ab spazieren, auf den Aufzug warten und aus dem nervigen Piepen des Fahrstuhls eine eigene Melodie aufbauen.

„Truths holds / Words I’ll never accept / I’m just a kid in my head”

Erinnert ihr euch noch daran, wie man als Kind den Regentropfen im Auto beim Rennen zugeschaut hat? Wie man danach melancholisch aus dem Fenster gestarrt hat, weil der eigene Regentropfen es nicht geschafft hat und sich gefühlt hat wie der Hauptcharakter in irgend so einem dämlichen Film? So fühlt sich der Song hier auch an. Aber nicht wie die Gefühle des Kindes, sondern eher wie die des Regentropfens. Das Fenster runterrennen, nie geradeaus, immer mit Umwegen, an anderen Regentropfen vorbei und in andere hinein. Kurz zusammen an Ort und Stelle ausharren, dann zusammen weitermachen. Bis das Ende immer sichtbarer wird, man aber an Kraft verliert und schließlich dabei zusehen muss, wie man selbst der Eingeholte wird.

Obwohl man dachte, man wäre unbesiegbar. Obwohl das kleine Kind vor den Fensterscheiben all seine Hoffnung auf einen gesetzt hatte. Die Lichter der Stadt zeichnen sich hell von der Dunkelheit ab, in der man liebend gerne verschwinden würde. Untertauchen. Aber aufgeben war noch nie eine Option – der Song vermittelt das Weitermachen. Weil genug eben doch nie genug sein kann und sich hinter jedem perfekt unperfekte Möglichkeiten verstecken. Weil mit dem Verlust der Liebe – oder des Wettrennens, um bei den Regentropfen zu bleiben – eben nicht automatisch auch das Leben verloren ist. Und somit fügt sich dieser Song beinahe nahtlos an seinen Vorgänger an, in dem es noch um das Scheitern und um unüberwindbare Gräben ging.

Ma Fleur (c) Sylwester Pawliczek

Beitragsbild: Ma Fleur (c) Sylwester Pawliczek