Ein Abend Durchschaufpause

Auf dem grellen Handydisplay leuchten die Ziffern 19:30. Der Wind rauscht durch das Laub am Boden. Eine halbe Stunde zuvor stand ich noch ehrfürchtig am Hamburger Hafen, mit dem schönsten Sonnenuntergang vor meinen Augen und den undurchsichtigen Glasfenstern hoher Bürobauten im Nacken. Gerade heute fallen alle U-Bahnen aus. Die kühle Oktoberluft streift über mein Gesicht, während die Schatten unzähliger Autos an mir vorbeirauschen und ihre Geräusche durch die Stimme von Jakob Muehleisen auf meinen Ohren unterdrückt werden. Ich frage mich, wie das Set sein wird. Was mich gleich erwartet bei einem Konzert, das dieses Jahr erst einmal das letzte für mich sein soll. Und das spontanste. Erst gestern hatte ich beschlossen, heute früh in den Zug zu steigen, Hamburg zu erkunden und den Tag bei Jakob Muehleisen ausklingen zu lassen. Mir fehlte ganz einfach die warme Atmosphäre eines Live-Sets, eines sich auf der Bühne vergessenden Musikers und eines Publikums, dem es die Sprache verschlägt, weil die Musik eine ganz andere kennenlernen lässt.

Ein wenig verloren laufe ich wenig später auf das Gelände zu, habe schon die Befürchtung, am falschen St. Pauli Museum zu sein – bis ich Jakob und seine Freunde vor dem Einlass in gemütlicher Runde sitzen sehe. Ich geselle mich dazu, lasse mich in der Konversation fesseln und bin froh über die Freundlichkeit, mit der ich begrüßt werde. Wenig später werden warme Winterjacken durch kühle Getränke getauscht, die Maske darf am Platz glücklicherweise abgelegt werden und das Personal des St. Pauli Museums empfängt uns mit einem zuvorkommenden Grinsen.

Spätestens, als um 20:00 der kleine Raum in rotes Licht getaucht wird und die Lippen von Jakob Muehleisen das Mikrofon berühren, wird der Abend gemütlich. Die ersten Klänge von „Waterfall“ schweben aus seiner Gitarre und finden sanft ihren Weg in das Publikum. Jakob beherrscht es, seine Stimme samt besetzt schweben zu lassen und seine Gefühle mit jedem einzelnen im Publikum zu teilen. Um ihn zu verstehen, muss man genau zuhören – und zulassen können, dass man sich in den Wellen seiner Worte verliert. Die sanft die Füße umspielen, die Fingerspitzen streifen und den Kopf mit erfrischender Meeresluft einhüllen.

Mein Herz wird schwer, als seine Finger mühelos über die Saiten streifen und diese so vertraut erklingen. Jakob ist vom Ammersee irgendwo in Bayern angereist, aber gerade auf der Bühne scheint ihm der lange Weg nichts auszumachen. Ein kleines Stück Heimat hat er dem Publikum abgeschnitten, während er die Atmosphäre mit lustigen Anekdoten und gefühlvollen Zeilen schmückt. Und ich meine, im Hintergrund Wellenrauschen und unbeschwerte Erinnerungen zu hören. Und eine ganz große Portion Sehnsucht, eingepackt in wattige Wolken.

Der nächste Song soll „Silence“ sein, der wie der vorherige in dem vor ein paar Monaten erschienenen Album „An Island in Argentinia“ seinen Ursprung findet. Jakob erklärt, dass er mit seinen Songs verschiedene Facetten der Liebe einfängt – und muss selber lachen, als er realisiert, wie kitschig das klingt. Aber es ist wahr und irgendwie schön. Das Album ist wie das Tagebuch seines vergangenen Jahres – und auf der Reise befinden wir uns gerade im Mai, wie Jakob mit einem leichten Lächeln preisgibt. Ich habe nie versucht, Monate in Gefühle zu übersetzen, aber hier, mitten in den Fanräumen des St. Pauli Stadiums, fühlt sich die Erinnerung an meinen Mai berauschend an. Ich spüre den Windzug auf dem höchsten Aussichtspunkt in Amsterdam wieder ebenso wie die Energie, als ich meine Lieblingsband das erste Mal einen neuen Song live spielen hören habe. Es muss einem unheimlich viel geben, das Erlebte in Gefühle zu übersetzen und schließlich in Songs zu komprimieren. Zumindest scheint es bei Jakob der Fall zu sein.

Schließlich löst „You Conquered My Mind“ ab. Mein Lieblingssong des Albums seit dem Moment, in dem Jakob mir seine Musik zeigte. Wie damals spüre ich die Sehnsucht in dem Song, den Sonnenschein, der sich in tiefen Pfützen spiegelt – aber vor allem die süße Hoffnung, die ich in der Rezension mit zerfließendem Honig verglichen habe. Live ist es aber trotzdem was ganz anderes. Jakob wirkt zurückgezogener, emotionaler und angreifbarer, als es der stimmungsvolle Refrain der Studio-Version je vermitteln könnte. Hier, vor den gut 20 Leuten, die sich für ihn auf den Weg gemacht haben, scheint er sich nicht verstecken zu wollen hinter der Fassade des distanzierten und unnahbaren Songwriters, die so viele in ihrer Musik aufbauen. Er scheint ein ernsthaftes Interesse daran zu haben, seine Gefühle mit dem Publikum zu teilen und aus dem „ihr“ ein „wir“ zu machen.

Die Weingläser ziert die Aufschrift „Kein Wein den Faschisten“ und es wirkt so, als wären wir schon ewig Gast hier. Der Donnerstagabend im Herbst fühlt sich an wie das allwöchentliche Treffen am Stammtisch. Jakob erzählt seine Geschichten, die Zuhörer ergänzen gedanklich mit eigenen Erlebnissen und Erinnerungen und gemeinsam blicken wir sehnsüchtig und erwartungsvoll einer ereignisvollen Zukunft entgegen.

Auch, wenn Jakob nur seine Gitarre im Gepäck hat, packt er dafür umso mehr Gefühle aus und verteilt Hoffnung an Herzen, die diese gerade bitter benötigen. Warme Decken für die, deren Seelen frieren und überschwängliche Umarmungen an diejenigen, die nach Nähe dürsten. Ich hatte fast vergessen, wie heilsam Musik sein kann. Jakob wirft den Anker. Und endlich fühle ich mich gänzlich angekommen, nach ziellosem Suchen und immer weiter wollen. Als gäbe es gerade gar keine andere Möglichkeit, als auszuharren und eine Pause zu machen. Wirbelnde Gedanken werden vertrieben durch sanfte Melodien.

Und währenddessen stimmt Jakob den ersten deutschen Song des Abends an, der den Titel „Maulwurf“ trägt, im April aus lauter Verzweiflung entstanden ist und Stereotypen bespielt, die man nicht so gerne mag. Weingläser klirren gegeneinander, warmes Lächeln breitet sich auf den Gesichtern aus und mit gespitzten Ohren lauscht man den nach den englischen Songs so ungewohnten deutschen Worten. Die Diskokugel streift nachdenklich über die Wände, untermalt die rot angestrahlte Bühne und das leise Klirren des Geschirrs im Hintergrund.

„Fire“ ist die traurige Liebesballade, die im Regal noch gefehlt hat und dabei hilft, die Scherben des Herzens Stück für Stück wieder zusammenzusetzen. Im Refrain noch mit Sekundenkleber und der Chance, dass es nach dem nächsten Tief wieder auseinanderfällt – als die letzten Akkorde des Songs jedoch verklingen und Jakob für einen kurzen Moment innehält, hat der Song es geschafft, die kleinen Lücken, Ecken und Kanten wieder zu einem Ganzen zu formen.

Die Sekundenzeiger ticken schneller als gewohnt, die Diskokugel strahlt mit den roten Wangen um die Ecke und die gemeinsame Zeit rennt davon. Mit traurigen Liebesliedern und stimmungsvollen Songs vom wieder aufstehen schreitet ein Abend voran, der die Zuschauer vor dem ungemütlichen Wetter draußen vor der Tür abschirmt. Mit jedem Gläserklirren, mit jedem Akkord und mit jedem Applaus, der nach jedem Song an Schwung gewinnt, wird die Atmosphäre vertrauter.

Das Laub der vergangenen Monate fällt weich von den Ästen, die Bäume schütteln sich vor lauter Energie und vor den Augen prangt unsichtbar der Schriftzug „Hoffnung“. Auch, wenn die Zukunft so unsicher ist – die sanften Klänge erinnern an euphorisches Herzrasen, die zuversichtliche Stimme an noch nicht abgelaufene Träume. An stundenlanges Tanzen im Mondlicht, an Gelächter auf dem Balkon und an warmen Glühwein im Bauch. An einen kleinen Moment Durchschnaufpause, der die inneren, aufgebrauchten Batterien durch glänzende austauscht und in einem kleinen Raum unmittelbar neben einem großen Stadion das absurd gewordene Gefühl von Heimat erweckt.

Fotos: (c) Mihanta Fiedrich / Gedankengroove