Zerbrechliche Schmetterlingsgefühle und beseelte Hymmnen

Montagnachmittag, 15:32. Die Klingel hat das Ende meines heutigen Schultages eingeläutet und erleichtert, aber auch ausgelaugt mache ich mich wie jeden Tag auf dem Weg zum Musikraum, der die stolze Nummer 27 trägt. Fast verblasst, aber dennoch prägend – denn hier treffen wir uns immer nach der Schule, um vom Stress runter zu kommen und allen Frust, verschiedenste Ängste und jeglichen Zweifel in die Musik zu legen.

Kaum habe ich die Tür geschlossen, fängt Tristan Stadtler auch schon an zu singen. Mathis Schröder begleitet ihn ambitioniert an Gitarre und Klavier. Überall stehen Musikinstrumente herum, der Papierkorb quillt fast über vor verworfenen Träumen und an den Wänden hängen abgeranzte Kraftklub Tourplakte.

Die neue EP haben die beiden Musiker am 08. März veröffentlicht, aber sie läuft hier immer noch in Dauerschleife. Bis neue Musik kommt. Der Musikraum hat der Band den Namen gegeben – „Raum 27“ nennen sie sich stolz. „Egal wie das hier los geht, hören werdet ihr’s nie, und wenn doch sagen alle: „Geile Kraftklub Kopie!““, die Zeilen erinnern mich immer wieder an unsere Unbedeutendheit. Alles, was wir jemals gemacht haben, hat wohl schon jemand vor uns gemacht. Ernüchtert lasse ich mich in den einladenden Sessel fallen, meine Augen hängen an der sich um ihre eigene Achse drehende Ballerina fest. Keine Ahnung wie sie es hier her geschafft hat, aber in ihrem rosé farbenen Tütü dreht sie einsam ihre Runden, bis der Raum durch Musik mit Leben gefüllt wird. Sie malt sich ihr eigenes Leben in ihrer eigenen Welt, tanzt immer weiter und denkt nicht daran, aufzuhören. Was mich abrupt in den Refrain von dem gerade abspielenden Lied „Traurig, aber ist so“ zurückholt. Tristans kräftige Stimme, gepaart mit dem einsetzenden Schlagzeug, das immer dringlicher erscheint und den doch so optimistisch klingenden Gitarrenklängen schmückt den sonst mit mehr oder weniger eifrigen Schülergedanken besetzten Raum mit Leben. Von draußen weht der Geruch der bunten Blumenwiese hinein, die im Raum verteilten Pflanzen verstärken die Frische und mir wird mit einem Mal ganz wohl ums Herz.

Vielleicht können wir doch etwas Neues in diesem Raum schaffen, etwas, das stolz der Welt präsentiert werden kann und was sich Menschen anhören wollen, die außerhalb dieses Spektrums sind. Beflügelnd setzt die nächste Strophe ein, so langsam nimmt der Song an Fahrt auf und die Musik an Form an. „Aber aufgeben nein, ich meine das kann doch nicht sein“. Aufgeben war nie eine Option, denke ich mir. Und bin ziemlich glücklich, dass sich Tristan und Mathis inmitten aller bereits existierenden Formen, Farben und Klängen ihren eigenen Raum erschaffen haben. Die Bridge winkt mir wie aus dem vorbeifahrenden Zugfenster zu, zieht an mir vorbei und lässt mich im Fahrtwind stehen. Aber mit stärkenden Klängen im Ohr. So traurig scheint es doch gar nicht zu sein, wie mir die sich in meiner Brille spiegelnden EP immer wieder beweist. Irgendwo lohnt sich auch der kleinste Feinschliff. „Und es tut mir so Leid, wird schon irgendwie gehen“. Ein vielversprechender Ausklang, der kurz der Zukunft entgegen spielt. Irgendwas ist immer, irgendwie wird jeder in seinem Leiden erhört.

Der nächste Song mit dem Titel „Maybach“ ertönt, das Setting ist jetzt aber ein anderes. Diesmal setzt nicht zuerst Tristan ein, sondern akustische, verspielte Gitarrenmelodien, verstärkt durch Streicher. Anfangs noch zögerlich, dann immer eindringlicher. Tiefe Klänge tragen ihren Wettkampf gegen die hohen, engelsgleichen Töne aus, liefern sich ein abwechslungsreiches Rennen. Wie auf einem Seidenteppich aus Streichern wird der träumerische Gesang davon getragen, schallt auf den Pausenhof und darüber hinaus. Ich verfolge die Töne auf ihrem Weg durch das Fenster, stelle mir vor, als würden von überall her Schmetterlinge kommen, die dieses Klanggerüst begleiten. Im Refrain kommt der Takt aus dem Schlagkörper wieder, optimischer sind die Zeilen aus dem Mikrofon aber immer noch nicht geworden. Schemenhaft ziehen verpasste Chancen an mir vorbei. „Kann vor tausenden Menschen stolz stehen, aber an dir nur schüchtern vorbeigehen“.

Du bist nicht das Problem, das weiß ich genau. Ich mache dich nur zu einem. Wünschte, das wäre nicht so. Wünschte, ich hätte den Mut, mich dir zu stellen. Chancen hatte ich ja schon genug, so ist es nicht. „Los, steig aus und führ‘ sie aus.“ Aber im entscheidenden Moment klappt es dann doch nicht. Der ganze Schmerz fließt in die Musik, verpasste Möglichkeiten, ungenutzte Gelegenheiten und viel zu wenig Mut finden ihren Platz hier. In einer laubbedeckten Lichtung, umspielt von den Wogen des Maybachs. Immer wieder schwappt kristallklares Wasser über, aber auch das hilft nicht aus der Nostalgie heraus, die die Musik immer noch trägt. Ich fühle mich wie die Ballerina, die so unerreichbar scheint. Oder spiegelst eher du diese distanzierte Einsamkeit inmitten der Menge wieder?

Der nächste Song „Zu gern“ holt mich wieder ab, weit weg von Vogelgezwitscher und Pausenhofgeflüster. Auch hier liefert ein Intro eine Kostprobe zu dem erklingenden Song. Die Streicher werden nicht mehr gebraucht, der Fokus liegt auf dem Klanggerüst anderer Instrumente. Immer weiter aufbauend unterstützt das Konzept die rauen, nun ironischen Zeilen. Nimmt mit auf ein Boot, das seine instabile Balance irgendwo zwischen unruhig und standfest gefunden hat. „Ist es morgens, will ich schlafen. Ist es abends, will ich heim. Auf der Arbeit schaue ich ständig auf die Zeit.“ Die druckvollen Zeilen sprechen für sich. Hin- und hergerissen schwankt das Boot weiter. „Zum Glück stellt sich ein Mensch sofort zufrieden, zum Glück wird sich kein Mensch sofort beschweren, ne.“ Und immer wieder geht es ums Älter werden. Im ständigen Wettlauf mit der Zeit, bald werden diese Türen verlassen und ein neues Kapitel wird geöffnet. Dazwischen aber erst einmal viele Auftritte mit einer zuverlässigen Live Band.

Wortspiele werden wie am laufenden Band abgespult, meine Tasse Tee in meiner Hand wird gefühlt immer wärmer. Der Refrain setzt ein, kurz wird die Melodie unterbrochen. „(Zu gern) Ich brech‘ aus, (zu gern) Feuer frei. (Zu gern) Alles neu (Wünscht‘ ich mich fern), Knopf aus und Kopf auf Stand-by“ schleudert mir mit voller Kraft entgegen, die Vielschichtigkeit lässt mir keinen Platz zum Denken und noch intensiver versetzte ich mich in dieses Szenario hinein. Was würde ich wohl auch dafür geben, einfach auszubrechen. Getragen von dem satten Instrumententeppich in Richtung Ferne. Es bleibt mir aber keine Zeit, darüber nachzudenken. Tristan singt sich direkt weiter, die nächste Strophe löst den Refrain ab. Der sich aber nichts desto trotz trotzdem in meinem Kopf festbrennt. Neue Perspektiven werden inmitten der Trostlosigkeit geschaffen, ranken an den Mauern der Perspektivlosigkeit nach oben. „Irgendwas muss es doch geben, irgendwas für das es sich Mal endlich lohnt zu leben“.

Der nächste Song bricht aus. Treuer Begleiter bleibt der Sarkasmus. Neue Ideen formen sich, im Hintergrund eine kratzende Schreibfeder und ein energisches Feuerzeug. „Hymnen vom Schlauchboot“, mein persönlicher Lieblingssong der EP. Untermalt von energischen Schlagzeug-Einwürfen und einer ständig weiterlaufenden Bassline, unterstützt von Soundeffekten. Die Ballerina tanzt langsamer, Schwere drückt auf ihren kleinen Brustkorb. „Und während unser einst blauer Planet völlig erschöpft die Augen dreht, lege ich mir Käsegazastreifen auf’s Brot und Kinder leiden Hungersnot.“ Der Himmel draußen zieht sich zu und wie auf Kommando setzt ein leichter Nieselregen ein. Ich betrachte die Bilder der Friedensbewegung an den Wänden und die unzähligen Tourplakate, die diesen Raum bunt machen. Völlig unpassend zur Stimmung, die bedrückter und vorwurfsvoller nicht sein könnte. Daran erinnert, das wir nicht aufhören dürfen, zu denken. Dass Sterben immer noch aktuell ist und Menschenrettung immer noch Rettung ist, so verdreht und verkorkst die Politik das auch sehen mag.

Eine zwar immer noch weiter spinnende Melodie untermalt das Ganze, die aber kontrastierend zum schweren Thema unbedacht leicht klingt. Es bedarf sich einer genaueren Auseinandersetzung mit diesem Song, um seine Absichten und sein Konstrukt zu verstehen. Abschließend Kriegsgeräusche, ein ungutes Gefühl durchfährt mich und ich wickel meinen warmen Pulli enger um mich. Jemand ist aufgestanden, um den Kamin zu entfachen, ich bin mit meiner Gänsehaut nicht alleine.

Gedankenverloren blicke ich in das auflodernde Feuer. Die ersten Töne von „Kammerflimmern“ erklingen, beginnend mit einer gedanklichen Hommage an frühere Zeiten und nostalgisch umformulierten und sich immer wiederholenden Akkordabfolgen auf dem weiß gestrichenen Klavier, die durch präsente Grundtöne unterstützt werden. Mathis bringt hier seine Künste zum Ausdruck. „Und jetzt sitze ich hier, mir fehlt die Wärme von dir. Mach‘ dir bloß keine Sorgen, ich hielt‘ mein Herz für geborgen“ Und dann der Fall des Ichs, das nicht verzweifelter sein könnte. In der verzwickten Situation des Vermissens und der Sehnsucht gefangen ist es nicht im Stande dazu, sein Leben weiter zu machen. Es erinnert sich immer wieder an damalige Zeiten zurück, die Phrase „Mach‘ dir bloß keine Sorgen“ hallt in kalten, verlassenen Räumen wieder. Führt wie ein Leitmotiv durch den Song. Der letzte Faden Hoffnung, an dem der Verlassene sich festklammern kann.

Im Refrain verlieren auf den Schlag die nostalgischen Klaviertöne ihre Bedeutung, werden von Gitarrenklängen ersetzt und das Schlagzeug nimmt nun den Raum ein. „Mein Herz brennt wegen dir, will mich in Träume verlieren. Mach‘ dir bloß keine Sorgen, nach Verzweiflung kommt morgen“. Der voller gewordene Klangteppich wird in der nächsten Strophe durch Streicher ergänzt. Die tiefen, wohltuenden Klänge lassen den Raum verschwimmen. Regen tropft durch das Fenster auf die Teppiche – oder sind es Tränen? Ich weiß es nicht genau und klammere mich an leeren Versprechen fest. „Mach‘ dir bloß keine Sorgen“ . Eigentlich sollte diese Zeile wirken wie ein Trostpflaster, hätte aber jetzt vorwurfsvoller nicht sein können. Grobe Ingwerspuren im warmen Früchtetee verursachen ein leichtes Ziehen im Magen. Verzerrend nach Wärme, Gefühlen, sehnend nach dir.

Inzwischen wandern die Zeilen weiter, in Richtung Zukunft. Wieder fähig, neue Dinge zu wagen, aber immer noch nicht befreit von der Kette einer längst vergangenen Beziehung. „Wir bleiben immer zusammen, hast du immer gesagt. Mach‘ dir bloß keine Sorgen, was ist aus uns wieder geworden“. Leere Versprechen bleiben im Raum stehen, es ist eine Sache der Unmöglichkeit, sich von den verblassenden Träumen zu lösen. Ein Teufelskreis, der daraus symbolisiert wird, dass die letzten beiden Zeilen bis auf das letzte Viertel identisch mit den ersten beiden sind. Der Kamin droht zu erlischen, wird durch alte Erinnerungen immer weiter genährt.

Sanft geschieht der Übergang hin zum nächsten Song, „Du bist – Radio Session“. Der Regen hat zumindest für einen Moment aufgehört und verkrümelt sich in einen Dunstschleier aus wogenden Wolken, allerdings erlischt mit Einsetzen der Strophe der Kamin. Als würde er wissen, dass die Reise hier zu Ende geht. Als wüsste er, dass er spätestens in ein paar Minuten keine Bedeutung mehr hat. Mir fehlt augenblicklich die Wärme, Dunkelheit kehrt ein. Hier fahren die imposanten Töne zurück, das Klanggerüst wird reduziert. Aber trotzdem wirken die Zeilen härter und bestimmter denn je, der Abschluss rückt immer näher. Entschlossen wird nicht mehr nur mit halben Sachen gespielt. Befreiung aus der alten Liebe wird gewünscht und im Refrain zum Ausdruck gebracht. Wie in den anderen Songs, die in diesem Raum entstanden sind.

Während in der Strophe noch unsicher mit der Vergangenheit und den möglichen Konsequenzen gespielt und nach der besten Lösung abgewägt wird, sticht der Refrain standfest und selbstbewusst hervor. Der Sound gewinnt an Dringlichkeit, auch wenn die Instrumente bei diesem Song sich auf das Notwendigste beschränken. Kein treibendes Schlagzeug, der Rhythmus wird allein durch die bestimmenden Melodien vorgegeben. „Komm nie, nie, nie wieder. Vergiss‘ alle meine selbstgeschriebenen Lieder, vergiss‘ alles, was ich machte für dich, du bist das aller, aller letzte für mich.“ Die EP hat ihr Ende gefunden und auch ich muss diesen Raum nun hinter mir lassen. Schließe die Tür und streiche über die Raumnummer, verlasse das Gebäude mit vertrauten, aber dennoch fremden Klängen im Ohr. Ob wohl bald etwas Neues kommt, nachdem mit diesem Kapitel abgeschlossen werden ist? Ich weiß es nicht. Bis dahin kann man Tristan und Mathis aber mit ihrer Live-Band noch in folgenden Städten erwischen:

  • 04.10. – Weserterassen in Bremen
  • 19.10. – Geburtstag des Tante Babo Magazins im Apollo Kino in Bremerhaven
  • 02.11. – Rock in Q in Querenhorst
  • 30.11. – Live im TiF in Bremerhaven