Die Diskokugel an der Decke

Angekommen. Kulturzentrum Lagerhaus Bremen. Samstag der 13. April. Kurz vor Beginn noch reingeschlüpft. Jacke abgegeben, Merchstand inspiziert. Eine Diskokugel dreht einsam ihre Runden. Die „Raus und weiter“ Tour von Hi!Spencer macht heute hier in Bremen Halt.

Aber bevor sich die Osnabrücker sehen lassen, ist erst einmal die aus Berlin stammende Band Portmonee dran. Allesamt lange, wellige Haare, cooler Kleidungsstil. Im Hintergrund ein kleiner LED Schriftzug mit dem Bandnamen. Eine fünf Mann Band, der Sänger unterhält das Publikum mit seinen Lyrics und kurzen Ansprachen. Besonders der Song „Chili“ hat es mir angetan, einer der wenigen Songs, den die Band bereits veröffentlicht hat. Der Refrain, wie gemacht zum Mitsingen – was dann auch gleich live in die Tat umgesetzt wird. Die Strophen, gewollt verloren, bewusst fordernd und zugleich so gestaltet, das genug Platz für eigene Gedanken ist. „Ich hab‘ dich komplett gefressen, hab‘ dich immer nur gebissen.“

Während dem halbstündigen Set bin ich zwischendurch mit meinen Gedanken ganz weit weg, die verträumten Melodien laden einen nahezu dazu ein, abzuschweifen und davon zu schweben. „Sehr schön. Ihr macht das sehr schön. Ihr seid sehr schön!“. Was noch mehr Bewegung im Publikum mit sich bringt. Aber nicht diese ruppigen, abgehackten Zuckungen – die Menge bewegt sich andächtig verträumt, schaut wohlwollend der jungen Band auf der Bühne zu. Der verlorene, eingängige Sound zieht wie ein weit entfernter Sog durch die Menge aus Körpern. Der treibende Beat fühlt sich an wie ein endloses Rennen. Noch eine Runde über den Sportplatz, noch mehr Chili. Allerdings stelle ich kurz danach fest, dass die Songs sehr wohl auch Moshpit Potenzial hätten – das wäre dann einer dieser Pits, in den man auch das kleine, blonde Mädchen aus der ersten Reihe schicken könnte. Schade nur, dass niemand damit anfängt. Sind dafür vielleicht auch einfach noch zu wenig Menschen anwesend. Aber in ein, zwei Jahren auf Headlinertour vielleicht – wer weiß. Ich werde mich überraschen lassen. Wer sich aber nicht überraschen lassen will, ist der Gitarrist. Er nimmt die Sache gleich in die Hand und springt kurzerhand selbst ins Publikum, geht auf Tuchfühlung mit der ersten Reihe und gibt seine Melodien zum Besten. Portmonee, die vor nicht allzu langer Zeit noch unter dem Namen „The Peters“ unterwegs waren, lassen die Gefühle in einer Popcornmaschine tanzen und spielen Pingpong mit Watte gefüllten Gedanken. Das, was sie machen, bezeichnen sie stolz als „Syndie“ – eine durchtriebene Mischung aus Synthie und Indie.

Portmonee verlassen die Bühne und machen Platz für die Headliner des Abends. Rotes, nebliges Licht taucht das Banner und das davor stehende Drumset in eine geheimnisvolle Atmosphäre. Auf dem Banner die Läuferin, die einem schon vom Albumcover der neusten Platte „Nicht raus, aber weiter“ bekannt sein sollte.

Auf der Bühne stehen jetzt Hi!Spencer. Das sind Sven Bensmann, Malte Thiede, Janis Petersmann, Jan Niermann und Niklas Unnerstal. Angefangen als Abiband trägt ihr Weg die Band über viele verschiedene Bühnen – und heute Abend ins Lagerhaus Bremen. Die Diskokugel an der Decke dreht weiter ihre Runden, allerdings nicht mehr so einsam wie zuvor. Die ersten Zeilen von „Wo immer du bist“ verlassen die Lippen von Sänger Sven, längst eingesetzt sind Gitarre, Drums und Bass. „Da wo du liegst, küsst Staub den Asphalt.“ Immer wieder werden die Instrumente in ihrem Lauf gedrosselt, um im Refrain wieder an Fahrt aufzunehmen. „Wo immer du bist, ich werde da sein“ Die kräftige Stimme von Sven hält die Fahrt in Schwung, lehnt sich aus dem Fenster und lässt in Instrumentals Raum für treibende Rhythmen und flächige Melodien.

Besonders der Wechsel von laut zu leise, von vollem Klang zu einer kleinen Melodie und von energiegeladen zu zurückhaltend gelingt der Band fließend. Was sonst oft live schwer fällt, meistern die Osnabrücker spielerisch. Wahrscheinlich ein Resultat langjähriger Bühnenerfahrung und ständigem Herumexperimentieren an dem Set. Die kräftige Begrüßung drängt das lebhafte Gerede, das bis gerade eben noch die Location erfüllte, an die spärlich beleuchtete Bar. Worte sind überflüssig, so lange die Stimmen aus den Mikrofonen und aus den Instrumenten die Luft erhitzen. Ein wohliges Lächeln legt sich auf die Lippen, die sich immer wieder öffnen, um laut oder leise sich den gesungenen Zeilen anzuschließen. Auch wenn das Publikum nicht in Moshpitlaune ist, schadet das keineswegs der Stimmung. Ganz im Gegenteil – dadurch, dass niemand durch das nicht vorhandene ständige Hin- und Hergeschubse angerempelt werden kann, ist jedem selbst überlassen, wie das Konzert zu erleben ist. Ich für meinen Teil schiele trotzdem ein paar Mal nach hinten, in der Hoffnung auf einen Moshpit, aber auch ohne lässt sich das Konzert in vollen Zügen genießen.

Die jungen Frauen neben mir haben sich in der ersten Minute schon gedanklich verabschiedet, grinsen mit geschlossenen Augen um die Wette und wirken verloren in der Musik, während mir vom jungen Mann knapp hinter mir immer wieder aus der Seele gesungene Refrains ins Ohr schallen. Geht mir selbst nicht anders. Ich komme aus dem Strahlen nicht wieder raus, sobald meine Lunge eine kurze Verschnaufpause macht. In Gedanken drehe ich mich genauso wie die Diskokugel an der Decke, immer ausgelassener, immer bunter.

Der Nebel verschluckt geplatzte Träume, die Kraft in Svens Stimme spendet Wärme und fährt wie ein elektrischer, wohltuender Schlag durch jeden Körper. „Wir haben den Kopf in den Wolken, weil wir es immer schon so wollten“. Verträumt und verspielt tauchen die Gedanken ab in ein tiefes Becken, gefangen durch im Ohr bleibende Refrains und prägnante Gitarrenriffs. Wie auf einem durch unnatürlich klares Wasser schwebenden Schiff, gelenkt durch die Musik der vier Künstler auf der Bühne. Die auch ohne sich jede Sekunde gegenseitig anstacheln zu müssen wie eine Einheit wirken. Jeder Übergang läuft wie am Schnürchen, verschluckt jeden Fehler, der gemacht werden könnte. Für meinen Geschmack ein bisschen zu gradlinig – ein kurzer Aussetzer zwischendurch oder verändern der üblichen Songs würde dem Set keineswegs schaden. Aber so sieht man, was die Band drauf hat. „Ich habe geschworen, schöner zu scheitern“ haben sie auf der Bühne perfektioniert. Improvisation muss vor der Bühne gestartet werden – was das Publikum auch drauf hat, wie des öfteren bewiesen wird. Und Hi!Spencer sind keine Band, die das ignorieren würde – spielerisch wird darauf eingegangen, es wird zusammen gelacht und gespaßt. So wird beispielsweise von dem Auftritt in dem nahe gelegenen Oldenburg 2017 geschwärmt – der dieses Jahr am 19. Oktober in der UmBauBar auf der „Weiter Raus“ Tour wiederholt wird.

Der vierte Tag auf Tour. Hi!Spencer müssen sich fühlen wie auf einem Höhenflug – oder vielleicht eher wie auf einem Höllentrip. Gitarrist und Co-Sänger Malte hat sich eine fette Erkältung zugezogen, will aber nicht pausieren. Immer weiter geht es auf dem Hi!Spencer Ausflug.

Die Setlist ist gespickt mit vielen Songs, die blockartig hintereinander abgefeuert werden. Nahtlose Übergänge verbinden diese, von denen jeder einzelne mit seinem eigenen Feuerwerk explodiert. Die einzigen Verschnaufpausen gibt es zwischen den Songblöcken. Zur Wasserflasche greifen, Durchatmen, eine kurze Absprache treffen, verschmitztes Gegrinse, euphorische Ansagen und weiter geht es im 18 Songs umfassenden Programm. Zwischendrin bleibt Sven dann auch noch genug Zeit für die Vorstellung des Bandmerches und den bisher herausgebrachten Platten, die er aus einem Gymbag hervor zaubert. Dass er durchaus dazu geeignet ist, Comedy zu machen, zeigt er nicht nur in der Band – inzwischen moderiert er des öfteren Shows oder tritt dort selbst als Gast auf. Für ein paar Minuten verwandelt er das Lagerhaus in seine eigene Bühne, sorgt für nicht gerade wenige Lacher und hinterlässt eine gelockerte Atmosphäre.

Das letzte Lied wird angekündigt. Und das Hi!Spencer mit diesem etwas Besonderes vor hat. Das Publikum wird eingebunden, in Gedanken mit auf die Bühne gezogen. Der Song „Nicht raus, aber weiter“ wird nicht nur vorgespielt, sondern zusammen performt. Augen schließen, den eigenen Fallschirm ausbreiten und sich in Grenzenlosigkeit fallen lassen. „Heute Morgen, hat das Monster nicht gewonnen. Heute Morgen, wiegen Herzen 100 Tonnen.“ Und dann, der Refrain. „Ich habe geschworen, schöner zu scheitern. Hier geht es nicht raus, aber weiter.“, der sich wie ein roter Faden durch das ganze Album zieht. Die Stimmen aus den vielen Kehlen übertönen fast die Instrumente. Ein Moment, der auf keiner Polaroid Kamera der Welt eingefangen und von keinem Handy der Welt aufgenommen werden kann. Gänsehaut, die unter die Klamotten bis ins Herz kriecht und dort etwas auslöst. Ist das nicht das wichtigste an der Musik? Dass sie etwas auslöst? Und das ist hier definitiv gegeben. Zufrieden singt das Publikum noch weiter, als die Band schon aufgehört hat. Ein Moment für’s Poesiealbum.

Die Band verlässt die Bühne, keine Sekunde später setzten die altbekannten „Zugabe“-Rufe ein. Das lassen die Jungs sich nicht fünf Mal sagen und heizen kurz darauf zu „Hinter dem Mond“ die Bühne wieder ein. Ein sehr emotionaler Song. Schmerzhaft wie das Quietschen von Fingernägeln auf der Tafeloberfläche, eindringlich und bedeutungsvoll wie der penetrante Wecker mit Schlummer Funktion. Gesellschaftskritik vom Feinsten. Wird abgelöst von „Schalt mich ab“. Am seidenen Faden der Liebe hängen Schmerz, Verlust und Angst. Das soll aber wirklich der letzte Song gewesen sein – zumindest für heute. Ein letztes Mal den Mund aufreißen, das Herz öffnen, die Augen schließen. Intim, zerbrechlich und gleichzeitig doch so stark. Eine unbändige Sehnsucht, gepaart mit einem immer wieder aufbrandenden Kämpferwillen. 13. April, Lagerhaus Bremen. Das waren Hi!Spencer.

Wer noch nicht genug von Hi!Spencer hat oder diese jetzt guten Gewissens kennenlernen möchte, sollte dieses unbedingt auf der „Weiter raus“ Tour tun. Mich findet ihr tanzend in Oldenburg und Osnabrück!

16.10.19ErfurtMuseumskellerTickets
17.10.19LeipzigNaumannsTickets
18.10.19BraunschweigB 58Tickets
19.10.19OldenburgumBAUbarTickets
23.10.19MünchenFeierwerkTickets
24.10.19BochumTrompeteTickets
25.10.19MünsterGleis 22Tickets
27.10.19FrankfurtZoomTickets
28.10.19BonnBlaTickets
21.12.19OsnabrückLagerhalleTickets

Beitragsbild (c) Andreas Hornoff