Releaseradar 27/01/2023

NIKE101 – Ich kann mir den Therapeuten nicht mehr leisten

Am Horizont zieht sich der Bass die Kapuze über, mit hocherhobenem Kopf stiehlt sich die Wiener Künstlerin NIKE101 auf die Bildfläche. Die visuelle Aufmachung einer Wahn-Phase untermalt einen Song, der das Sprechen über mental health und das eigene Wohlbefinden attraktiv macht. NIKE101 kann sowohl lässig als auch gesellschaftskritisch – und verpackt die Zeile „Ich kann mir den Therapeuten nicht mehr leisten“ in einen drückenden Beat. Schnell gerappte, unbeschönigte Beschreibungen einer Lebens- und Leidenssituation, die momentan leider viel zu viele Therapiesuchende betrifft. Trotzdem schafft sie es, diese Frustration und Hilflosigkeit durch humorvoll aneinandergereihte Wörter und eingestreute Zwischenrufe mit Selbstironie zu verkleiden.

TUYS – Look Alive

Vor ein paar Jahren bin ich über den Kurzfilm „The Ballad Of Cleopatra“ von The Lumineers gestoßen, eine Geschichte mit mehreren Protagonist*innen, für den die Songs des „Cleopatra“ Albums den Soundtrack bilden. Großartig – und etwas Vergleichbares habe ich danach nicht wieder gefunden. Zugegebenermaßen habe ich seitdem aber auch eher Kurzfilme als Musikvideos geschaut, da die Storyline dort einfach mehr Potenzial hat, dramaturgisch aufgezogen zu werden. Umso erfreuter bin ich, dass die Luxemburgische Band TUYS ihre Songs mit den verschiedenen Teilen eines Kurzfilms großartig visuell untermalt. Dargestellt wird die Kooperation „Reality Management Ltd.“, die ihren Kund*innen speziell individualisierte Realitäten verkauft. In den bisherigen Teilen baut sich die Story langsam auf, die zuvor erschienene Single „Yellow Eather“ will eine Realität mit ehrlichen Konversationen und echten Gefühlen erschaffen. „Look Alive“ wiederum verwandelt den Konsumenten eines Computerspiels in den Protagonisten, der sich kunstvoll gestalteten Kämpfen stellen muss und sich verschiedensten Konflikten auseinandergesetzt sieht.

Der Song selber verschmilzt den Anspruch virtueller Realität mit lauten Gitarren und herausfordernden Vocals. Um das Klanggerüst baut sich eine beeindruckende Szenerie auf, entführt mit langatmigen, pochenden Beats und gewinnt wieder an Stärke zurück. Durch die Luft flirren glasige Augen und blaue LED-Lämpchen, das Synthie-Solo raubt sich den Platz, der ihm zusteht und fliegt majestätisch durch den Lautsprecher. „Look Alive“ hält die Türen zu wundersamen Überraschungen auf, bleibt dabei aber dem psychedelischen Klangbild stets treu.

Peat – Für Immer

Klaviertöne leiten eine Reise ein, dessen Ausgang nicht aufgelöst wird. Klar ist jetzt schon – der Track „FÜR IMMER“ wird spannend. Zwischen Unendlichkeit und Ungewissheit mischen sich unter die Akkorde mehr und mehr Elemente, die sich beim ersten Hören gar nicht entschlüsseln lassen wollen. Der Song bleibt schwer greifbar, bis der Beat sich pochend dem eigenen Herzschlag annähert. Die Hand ausstreckt und einlädt, sich in den raumeinnehmenden Klängen zu verlieren. Über all dem schwebt die Stimme des Experimental-Rap Artists Peat, die sich in der Hook in verzerrten Sphären verliert. „Mach das Licht aus, ich seh‘’’ nichts mehr“ ist dabei nur eine der detailvoll gestalteten Zeilen, die dem sowieso schon vielschichtigen Song noch mehr an Tiefe verleihen.

Die prägende, absteigende Melodie taucht schon versteckt hinter den Zeilen auf, wird dann in anderen Tonhöhen in der Pre-Hook aufgenommen. Peat rückt sie in den Vordergrund, damit sie dann von eindrucksvollen Synthies zu eigen gemacht werden kann und immer wieder dann auftaucht, wenn der Gesang vor ihr kapituliert und verzerrt entflieht. Und wenn man jetzt denkt, die Essenz des Songs grob durchblickt zu haben und sich entspannt zurücklehnen zu können – nichts da. Peat lässt den Vertrauensvorschuss in der Luft hängen und tischt im zweiten Part mit gerappten Sequenzen auf. Erobert in neuem Tempo die Nacht und die Gedanken, die nach der Stille an die Oberfläche wollen. Schafft es, durch verschiedenste Phasen zu führen und gleichzeitig doch immer an dem Hall der Ewigkeit festzuhalten. So beendet das Klavier schließlich stilvoll einen Song, der sich in diesem Rahmen die vollkommenste Freiheit herausnehmen darf.

CARY – Stockfinster

Zitternd reiben kalte Finger an langen Mäntel entlang, müde Augen huschen wartend durch die fast schon sibirisch-anmutende weiße Landschaft. CARY erschafft eine melancholische Atmosphäre, die der Soundtrack für kalte und düstere Winterabende sein könnte genauso wie für längst erfrorene Gefühle. Doch inmitten der Finsternis und der düsteren Klänge findet sich in „Stockfinster“ immer wieder ein kleines bisschen Hoffnung: „Gib mir doch Bescheid, wenn die Sonne wieder scheint.“ CARY lässt sich nicht einnehmen von der Kälte, gibt ihre Suche nach Zugehörigkeit und Zuhause auch in der eisigsten Dunkelheit nicht auf.

Kapa Tult – Menschen (denen es gut geht)

Einen komplett anderen Ansatz, um mit Winterdepressionen umzugehen, bietet die Band Kapa Tult. Gegeben dafür ist mit „Menschen (denen es gut geht)“ schon einmal die durchgängig strahlende Melodie, die sich mit dem Funkeln einer Diskokugel durch den Song zieht. Zwischen Sprechgesang und immer wieder unterbrochen durch funkige Einspieler beschwert sich Angi darüber, dass alle anderen nach außen hin den schönen Schein wahren, während das eigene Leben so gar nichts Schönes aufweisen kann. Begleitet von gesanglichen Harmonien im Chorus fragt sie sich empört: „Ist das dieses falsche Leben im Falschen?“

Van Holzen – Tauchen

Mit ungewohnter Kopfstimme in den ersten Sekunden melden sich Van Holzen mit „Tauchen“ zurück. Die Single nimmt schnell an Fahrt auf, ohne dabei das Tempo zu erreichen, das ältere Songs angeschlagen haben. Als großer „Herr der Welt“ Fan vermisse ich kurz die Härte und Entschlossenheit, bis mich dann schließlich der dritte Chorus abholt und mitnimmt auf eine Reise, die wesentlich experimentierfreudiger zu versprechen scheint. Bis zum vierten Refrain hin kippt das Bild – und lässt dann auch noch eine Ansammlung eben dieser lauten Klänge frei. Eine kurze Verschnaufpause zum Verlieren und Kopf in den Nacken fallen lassen. Doch schließlich ziehen Van Holzen weiter – und „tauchen an allen Grenzen vorbei“. Wo der Sound vorher noch ungewohnt war, ist er auf einmal zugänglicher und macht es leichter, sich mit den geglätteten Wogen treiben zu lassen. Bis der nächste Sturm gezielt mitreißt.

J. Vague – blue moon

Nach dem Schlagzeug setzen schwebende Synthies ein und setzen kurzerhand das Konzept von Zeit und Raum außer Kraft. Schwerkraftbefreit hält das Schlagzeug einen Song in Schach, der entfliehen will und kontrastvoll leicht wirkt. Verträumt legt sich die Stimme des Künstlers auf die Klänge, wechselt verspielt zwischen Sprechgesang und freigesetzten Zeilen.

J. Vague (c) Jaara Lange

PAULA PAULA – Wenn du jetzt gehst

Atempausen, um sich kurz vor den eigenen Gefühlen zu beschützen, die Gitarrenmelodien, die immer wieder den Raum einnehmen, wenn es für den Gesang gerade zu viel ist. PAULA PAULA präsentiert mit „Wenn du jetzt gehst“ eine vor Schmerz überquellende Ballade, die von verletzlicher Kopfstimme gen Ende hin ihrer Wehmut Ausdruck verleihen kann.

Beitragsbild: NIKE101 (c) Jayredavience Diquit Gambo