Von Weltschmerz, bittersüßer Hoffnung und Indie-rock mit cello

Der Geruch von durchnässten Tannen hängt in der Luft und Laub knirscht unter den Füßen, als die ersten Töne erklingen. Vor den Augen breitet sich ein Dickicht aus einem dunklen Klangteppich und über den Zeilen hereinbrechender Melancholie aus, während das Cello die Umrisse eines herrischen Walds zeichnet. Gleichermaßen gesellschaftskritisch wie kunstvoll eröffnen Sperling mit „Eintagsfliege“ ihr Debüt-Album „Zweifel“, das in düstere Farben gekleidet und mit einem einzelnen, hervorstechenden blutroten Farbklecks verziert ist. Dramaturgie ist nichts, was der Band fremd ist und so fällt schon im ersten Song auf, dass sich ein gewaltiger Spannungsbogen wie ein roter Faden durch die Melodien zieht.

Vom Cello bis zum Schlagzeug haben alle Instrumente die Kunst perfektioniert, sich im richtigen Moment in kleine Höhlen zu flüchten, im nächsten befreit aus allen Wolken zu fallen und sich daraufhin in donnernden Blitzen zu entladen. Was wiederum die nächste Sekunde unvorhersehbar macht und Sänger Jojo dazu verhilft, mit seinen Worten die Klänge zu steuern und den Himmel zum Explodieren zu bringen.

Seine Stimme erzählt kraftvoll in Passagen zwischen Rap und Gesang von Hoffnungslosigkeit und von Weltschmerz. Davon, die Welt durch das Weitwinkelobjektiv vom Hochsitz aus zu betrachten, aber gleichzeitig auch davon, den Fokus mit dem Makroobjektiv auf die kleinen Imperfektionen des Lebens zu richten. Das Klanggerüst baut sich auf um Jojos nuancenvolle Sprachmelodie, malt den Hintergrund zu seinen Geschichten und erschafft die Farben zu seinen Gefühlen.

Sperling (c) von der Gathen

„Bleib“ sorgt dafür, dass der lange Damm aus zurückgehaltenen Gefühlen überschwemmt wird und einzelne Hoffnungsfunken durch sich windende Flüsse bis ins weit entfernte Tränenmeer gespült werden. In den Klängen findet sich das leise Zischen der Wasseroberfläche, der weiße Dunst, der durch den ungewohnten Wärmeunterschied aufsteigt und das verheißungsvolle Blubbern der Strömung, die die Fährte der Hoffnung aufnimmt und dazu beitragen will, mit den Funken ein ganzes Feuer zu entzünden.

Und selbst wenn der nächste Song den Titel „Stille“ trägt, ist er doch alles andere als still. Will gehört, getanzt, geschrien und gefühlt werden, will raus in die Welt und zeigen, was ihm an dieser schmerzt. Eindrucksvoll verschafft sich das Cello seinen Platz in dem Song, tritt auf die kleine Bühne und verziert die Musik mit einer ganz besonderen Note. Auch, wenn nichts im Leben für immer bleiben soll – mit den wohltuenden Klängen des Cellos an der Seite und den immer wiederkehrenden Melodien scheint dieser Grundsatz plötzlich doch nicht mehr so einbruchsichere Mauern zu haben. Vielleicht, auch wenn alles andere endet, vielleicht bleibt dann noch die Musik und mit ihr vertonte Gefühle und zerbrochene Gedanken. Und das Cello, das den Instrumententeppich mit einer angenehmen Mischung aus Fernweh, Sehnsucht, Melancholie, Abschiedsschmerz und bittersüßer Hoffnung schmückt. Das verheißungsvoll von der Lücke im Lebenslauf erzählt, über gelebte Träume seufzt und von in dunklen Tälern überwundenen Ängsten schwärmt.

Der Schlagzeugsound in „Toter Winkel“ erinnert an die eigenen Fußstapfen im Gewirr des Laubbodens, an den Hall des eigenen Herzschlags unter den Baumkronen. Erinnert an das kratzende Geräusch von Messern auf Baumrinde, an eingeritzte Initialen und an das selbstverliebte Lächeln im Moment danach. Das Album hat keine Erfolgsgeschichten, die auf hell erleuchteten Bühnen in marmorverzierten Sälen erzählt werden dürfen. Viel mehr sehnen sich die Songs nach spärlich möblierten Clubs und mondbeschienenen Hallen. Dürfen bloß nicht mit zu viel Licht angestrahlt werden – denn die Wahrheit hinter den Zeilen ist grell und schmerzhaft. Aber glücklicherweise haben Sperling erstaunlich wenig Angst davor, sie mit Taschenlampen aufzuspüren. Um auch jedes Körnchen und jeden Funken einzufangen und in Songs weiterzutragen, die unglaublich schwer wiegen.

„Baumhaus“ hilft dabei, vor lauter Wahrheit nicht die Hoffnung umzubringen. Baut trotz der Bedrohlichkeit des Klanggerüsts wieder auf und zeigt, wie schmal der Grat zwischen Verzweiflung und Mut ist – und, dass sich aus allem Kaputten immer wieder etwas Neues aufbauen lässt. Wenn die Mauern einbrechen, sind Sperling immer noch da. Aber die dunklen Fassaden sind es ebenso. Es scheint fast, als könnte das eine ohne das andere nicht existieren – aber der Weg aus der Finsternis besteht darin, zu erkennen, dass auch die dunkelsten Fassaden immer noch von der Hoffnung angeschienen werden. Und ich bin mir sicher, Sperling befinden sich mitten auf dem Trampelpfad ins Licht.

Fast sehe ich den Drachen aus „Die unendliche Geschichte“ als Weggefährten auf eben diesem Trampelpfad vor mir, als der Songtitel „Fuchur“ in der Warteschlange auftaucht. Erinnere mich an samt überzogene Sessel, an knarzende Gänge und schnarchende Lehrer, an ein schaurig-schön aufgeführtes Theaterstück und an die Nacht, die ihre Fänge um den Saal schlingt. Der Song braucht keinen Chor, kein Echo – das „wir“ übernimmt beides.

Wirkt so erfahren und lebensweise, dass man kaum glauben kann, dass es sich um das Debüt-Album einer Band handelt, die oberflächliche Themen wie Geld oder Mode zielstrebig hinter sich lässt und sich stattdessen mit tiefgründigen Fragen, Antworten und Ungewissheiten auseinandersetzt. In „Zweifel“ geht es immer weiter nach vorne, durch Irrwege und an Wegweisern vorbei, durch bedrohlich dunkle Sümpfe und an Burgruinen und morschen Baumstümpfen vorbei. Statt an der Oberfläche zu kratzen, hat sich das Quintett direkt vorgenommen, bis auf den Grund zu tauchen.

„Relikt“ zeigt, dass trotz der düsteren Gedanken der Optimismus und Lebenswille der Band Überhand behält. Die Leidenschaft an der Musik und der Drang dazu, sich in abwechslungsreichen Melodien und aufatmenden Passagen kreativ zu verausgaben verrät die vermeintlich schwere Melancholie, die wie ein bedrohlicher Schleier jeden Funken Freude zu verschlucken scheint. Und so nehmen Sperling mit auf Soundeskapaden in unbekannte Welten. Die Schönheit dieser Reise lässt sich in keinem Wort, in keinem Polaroid einfangen; die Songs sind zu weitwinkling und die Texte besitzen zu viele Ebenen dafür.

„Es ist schwer, das System zu hassen, wenn man ein Teil davon ist.“

In „Laut“ erinnern die Zeilen fast an eine Art Poetryslam. Jojo spielt mit seinen Worten wie mit flammenden Feuerbällen, die er auf seine ganz eigene Art und Weise bändigen und für sich einnehmen konnte, während der Song sich vor dem Willen nach Veränderung und Bewegung in dem leidenschaftlich glühenden Feuer verzehrt. Das Cello legt einen bedrohlichen Bass unter die Musik; hohe Dissonanzen fliegen wie spähende Raben über den Wald aus Instrumentenschichten. Man merkt „Laut“ direkt an, dass er raus will – raus aus dem Kinderzimmer, das der Biedermeier mit seinem Müßiggang verunstaltet hat und in dem viele erwachsene Seelen immer noch Zuflucht suchen. Raus aus der Komfortzone und rein in unbekanntes Terrain, das die Band mit suchenden Augen und zuversichtlichen Herzen eröffnet.

Ganz ohne Schlagzeug muss schließlich „Mond“ auskommen – steht ihm aber zwischen den Post-Hardcore-Wänden und abenteuerlichen Breakdowns erstaunlich gut. Von ihrem Klanggerüst weicht die Band aber auch in dem ruhigen Track nicht ab, der doch zu schnell daherkommt, um das Abdriften in das Land der Träume zu ermöglichen. Nachdenklich fühlt sich „Mond“ an wie ein vertonter Gedichtband mit Hardcover, vergoldeter Überschrift und einem kleinen Blutklecks auf dem Umschlag, der laut nach Wahrheit und Aufklärung verlangt. Der Sound hallt noch lange im Kopf nach.

Nach dem emotionalen Höhepunkt des sinnvoll platzierten akustischen Songs kommt der nächste Track „Tanz“ gelegen mit seiner grandiosen Melodieführung und den Schallwellen, die nach existenzvergessenden Moshpits verlangen. In anklagenden Zeilen und flehenden Gitarren macht sich der Song zwischen den Zeilen über eintätowierte „Carpe Diem“ Sprüche lustig und klingt viel mehr nach Vanitas und nach dem Willen danach, die Welt für einen kleinen Moment vergessen zu dürfen.

Tatsächlich hätten Sperling alles recht dazu, sich über die Welt lustig zu machen, stehen aber mit seltsamer Erhabenheit stattdessen Seite an Seite mit verlorenen Seelen und verzerrten Wunschvorstellungen. „Zweifel“ als Titelsong vereint noch einmal alle Facetten von gedankenverlorenem Sprechgesang, Mauern einreißendem Cello bis zu sich bedrohlich aufbauenden Soundwänden. Trotzdem fehlt mir in dem Song ein Stück der Härte, die sich immer wieder ihren Weg durch das Album geschlagen hat – aber vielleicht braucht das sowieso schon zum Zerreißen mit Erwartungen gespickte Album gerade im Titelsong ein bisschen Leichtigkeit.

Schließlich endet der nahezu majestätische Langspieler mit dem langsamen „Schlaflied“. Die Zeile „Aber du weißt doch, dass ich da bin“ sticht heraus und wirkt wie die Quintessenz des Albums. Egal, wie düster es ist, doch lässt das Album nie allein und vermittelt inmitten von lauter Schwere nie das Gefühl, ohne Fallschirm fallen zu müssen. Noch eine letzte Melodie Trostpflaster, um die aufgerissenen Wunden ein Stück weit wieder zu heilen. Noch eine letzte Zeile warme Kaminluft, um die innere Kälte ein Stück weit wieder aufzutauen. Definitiv ein Album, das keine leichte Kost ist und mit Vorsicht genossen werden sollte – aber gerade deswegen unfassbar großartig ist. Chapeau!

Beitragsbild: Sperling (c) Simon von der Gathen